befragte Experten:
Michael Bochow (Soziologe),
Jochen Hick
(Filmemacher),
Frieder Hentzelt (Psychologe),
Gloria Viagra
(Partygröße)
O-Ton-Collage Hentzelt/Viagra/Bochow/Hick:
Du weißt ja, wie Schwule sind ... Die Schwulen
sind genau so blöd, wie die Heten ... Diese Welt ist nicht
ihre Welt ... Man sieht ja, was die Deutschen daraus gemacht haben
.
Als im Herbst 1998 die gerade gewählte rot-grüne Bundesregierung
ihre Arbeit aufnahm, widmete sie sich umgehend einem innenpolitischen
Thema: Der rechtlichen Emanzipation homosexueller Lebensgemeinschaften.
Das Für und Wider der sogenannten `Homo´-Ehe stand über
Monate auf der politischen Agenda. Für den kleinen Anteil
an heiratswilligen Paaren bei Deutschlands Schwulen und Lesben
sollte sich rechtlich einiges ändern. Und auch in der Ampel-Regierung unter Kanzler Olaf Scholz genießen schwule und - wie viele neuerdings sagen 'queere' - Anliegen klare Priorität.
Moderne Gesellschaften, wie die der Bundesrepublik, tendieren
dazu, Minderheiten und Randgruppen verstärkt integrieren zu
wollen.
So findet in den Lebenswelten schwuler Männer, die mit jenen
lesbischer Frauen schwer zu vergleichen sind, seit einiger Zeit
ein beschleunigter Normalisierungsprozess statt.
In dessen Verlauf zeigt sich immer deutlicher, worin wirkliche
Wesensunterschiede zu heterosexuellen Männern liegen; Es wird
erkennbar, wo Gegensätze bisher überbetont oder gar konstruiert
wurden; Und es tritt offen zu Tage, wo vermeintlich schwule Eigenschaften
lediglich aufgrund der Benachteiligung homosexueller Männer
in vielen Lebensbereichen entstanden.
Wenn ein Mann sich als `schwul´ bezeichnet, dann wird in
der Regel davon ausgegangen, dass diese Eigenschaft neben seiner
Sexualität auch sein Sozialleben beeinflusst. Häufig werden
zudem weitergehende Rückschlüsse -berechtigt oder nicht-
in bezug auf seine Gesundheit, seinen Geldbeutel, seine Mobilität
oder seine körperliche Erscheinung angestellt.
Natürlich gibt es `den´ Schwulen ebenso wenig wie `den´
Teetrinker oder `den´ Spanien-Urlauber und selbstverständlich
sind Männer neben ihrer sexuellen Orientierung auch noch von
anderen Eigenschaften geprägt - Das Schwulsein scheint sich
für die verbleibenden Lebensbereiche jedoch als besonders
folgenreich zu erweisen.
Bei Betrachtung der letzten Jahrzehnte ist festzustellen, dass
schwule Männer große Fortschritte erzielen konnten:
Die Politik ist dabei, homosexuelle Lebensformen denen der heterosexuellen
Mehrheit rechtlich anzugleichen;
Die Wirtschaft richtet immer mehr Werbestrategien nach den vermeintlichen
Bedürfnissen schwuler Männer aus;
Im Bereich von Medien und Kultur spielen sie wie gewohnt
-jedoch zunehmend offener- eine wichtige Rolle;
Medizinisch sind sie -nicht zuletzt in Hinblick auf Aids- ihren
spezifischen Bedürfnissen gemäß sehr gut versorgt.
`Die Schwulen´ als gesellschaftliche Gruppe haben also Fortschritte
in ihrer Integration gemacht. Doch es gibt auch Fehlentwicklungen:
Wegen der Political Correctness werden Konflikte mit der heterosexuellen
Mehrheitsgesellschaft tabuisiert;
Schwule Männer werden von den Massenmedien als lebensfrohe
Trendsetter und kaufkräftige Konsumenten verklärt;
Hedonismus und Jugendwahn führen häufig zu Vereinsamung und
psychischen Störungen.
Wenn man herausstellen will, wo schwule Männer in Deutschland
zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen, müssen ermutigende
und problematische Entwicklungen gleichermaßen Berücksichtigung
finden.
Sind schwule Männer wirklich anders ? Teilen sie außer
ihrer sexuellen Orientierung noch andere Besonderheiten miteinander,
die sie von heterosexuellen Männern unterscheiden ?
Es existiert keine schwule Identität, kein speziell schwules
Wesen. Dafür sind homosexuelle Männer untereinander zu
unterschiedlich; Wie auch die heterosexuellen.
Dennoch gibt es Veranstaltungen, wie die Christopher- Street-Day-Paraden
der Schwulen und Lesben in nahezu allen größeren Städten
der Bundesrepublik. Dabei zelebrieren jedes Jahr zehntausende Menschen
mit den unterschiedlichsten Biografien wichtige Gemeinsamkeiten
und mahnen gleichzeitig gesellschaftliche Veränderungen an.
Die Erfahrung solch eines gefeierten `wir´-Gefühls kann
manchem Schwulen sicher eine Stütze sein. Zumal alte Identitätsstifter,
wie die Nation, die Kirche oder die Familie mittlerweile sehr an
Bedeutung eingebüßt haben. Dennoch warnt Psychotherapeut
Frieder Hentzelt vor Selbsttäuschungen:
2. O-Ton Hentzelt:
Die Vorstellung einer schwulen Identität, also
eines schwulen Wesenskerns, ist durchaus nicht unproblematisch. Dies
lässt sich an verschiedenen Beispielen recht deutlich zeigen:
Das erste wäre die Frage `Bin ich nun eigentlich schwul oder
nicht ?´ - Da könnte ich aus der Beratung durchaus Beispiele
bringen von Menschen, die kommen und sagen `Ich weiss gar nicht, ob
ich schwul bin oder nicht.´
Hier schiebt sich so etwas, wie die Vorstellung, es gäbe
etwas wie Schwule und Nicht-Schwule -also diese Zweiteilung der
Menschheit; Oder der Männlichkeit- zwischen diese Menschen
und ihr eigenes Erleben. Das heißt, sie fragen nicht `Was
empfinde ich ? Wie möchte ich mit meinen Empfindungen umgehen ? Wie
kann ich meine Empfindungen nutzen für soziale Kontakte, für
das Zusammensein mit anderen Menschen ?´ sondern sie fragen
`Wie lässt sich mein Empfinden katalogisieren ?´.
Und das muss dann auch noch in so einem platten Zweierschema schwul/nicht-schwul
geschehen
Ganz besonders schwierig wird dies bei Menschen, die eine Veränderung
bei sich feststellen. Zum Beispiel bei Menschen, die ihren Sex
bisher nur mit Männern hatten und plötzlich feststellen,
dass sie sehr glücklich mit Frauen sein können und sich
daraufhin fragen `War ich früher in Wirklichkeit gar nicht
schwul ?´, welches eine völlig überflüssige Frage
ist - Statt zu schauen `Was empfinde ich jetzt eigentlich ?´
wird gefragt `Wie kann ich es einsortieren ?´
Es stellt sich die Frage, wer an der Einteilung `homosexuell und
heterosexuell´ ein Interesse hat - Vielleicht der Mann und
die Frau auf der Straße, die , gibt jemand sich ihnen als
schwul zu erkennen, sofort glauben, einen wichtigen Teil von ihm
zu kennen. Und dass er eben irgendwie anders ist als ... als irgendwelche
anderen.
Dieses landläufige Wissen basiert auf Erzählungen, auf
Vorurteilen und manchmal auch auf eigenen Erfahrungen. Selten ist
es im luftleeren Raum entstanden. So haben diese vermeintlichen
Gewissheiten zur Existenz des `Phantoms´ eines besonderen
schwulen Wesens beigetragen.
Homosexuelle Männer tun sich keinen Gefallen damit, angebliche
Unterschiede zu ihren heterosexuellen Geschlechtsgenossen zu sehr
zu verinnerlichen. Das Festhalten an scheinbar schwulen Eigenschaften
wirkt aus psychologischer Sicht viel mehr störend auf den
persönlichen Umgang zwischen homosexuellen Männern:
3. O-Ton Hentzelt:
Ein klassisches Beispiel aus der Beratung wäre:
Ein Mann, der sich von seinem Freund getrennt hat, über ihn
klagt und irgendwann sagt `Aber Du weißt ja, wie Schwule
sind ... .´. Oder aus einem Verein, wo ich gerade großen
Ärger erlebt habe, und dort plötzlich gesagt wird `Naja - Ist ja
auch ein schwuler Verein. Da ist so was völlig erklärlich
... .´.
Hier wird nicht mehr nach den konkreten Dingen gefragt; Was es
ist, was konkret die Situation so schwierig gemacht hat - Sondern es
löst sich auf in so etwas Allgemeines, was eben schwul sein soll.
Dabei finde ich es ganz erstaunlich, was in solchen Beratungssituationen
alles schon als `typisch schwul´ bezeichnet wurde: Da sollen
`die Schwulen´ besonders ordnungsliebend und zwanghaft sein
und genauso gut kann gesagt werden, dass sie besonders chaotisch
sind; Es kann gesagt werden, dass Schwule überhaupt nicht
gefühlsfähig sind, also gefühlskalt wären -alle
so abgebrüht und cool- oder dass sie ganz besonders gefühlsbetont
wären - Es gibt wirklich alles, was sich dann in dieser großen
`schwulen Identität´ auflösen kann.
Schwule Männer als freiwillige Bewahrer der über sie
kursierenden Vorurteile ? Als Hüter der Stereotype, unter denen
viele zu leiden vorgeben ? Denen die starren Vorbehalte großer
Teile der Gesellschaft gegenüber Homosexualität das Leben
schwer, manchmal gar unerträglich machen ?
Vorurteile müssen sich nicht zwangsläufig schädlich
auswirken: Sie helfen manch einem, sich in der komplexen modernen
Gesellschaft zurechtzufinden. Laut Frieder Hentzelt verfälschen
sie jedoch häufig die gegenseitige Wahrnehmung zwischen Schwulen,
zum Beispiel in gemeinsam genutzten Einrichtungen ihrer Szene:
4. O-Ton Hentzelt:
Ein klassisches Beispiel hierfür wäre die
`cruising area´: Ein Bereich, in dem schwule Männer sich
sehen und schnell zum sexuellen Kontakt miteinander kommen können.
Dort wird häufig gesagt `Mir geht dieses narzisstische Gehabe
der Schwulen auf den Nerv.´
Wer kennt sie nicht - Jene typischen Gedanken, die mann
sich sonntags früh in einer verrauchten Kneipe macht ... ?
"Und alle stehen sie wieder cool herum. In den Ecken, ziehen
an ihren Zigaretten.
Das könnte ich eigentlich auch mal wieder tun.
Und jeder wartet. Ich warte auch. Eigentlich
würde ich lieber nach Hause.
Es ist spät, 4 Uhr durch.
Ist das öde ! Keiner sieht mich an,
niemand fragt mich was.
Sind sie alle wieder cool heute Abend !
Auf wen warten die denn noch ?
Na, schau mal an - Da kommt tatsächlich
noch ein frisches Exemplar durch die Tür !
Noch nie hier gesehen, prima.
Aber er guckt nicht einmal in meine Richtung.
Typisch schwul: Der wird jetzt die nächste
halbe Stunde abchecken,
was für Typen hier unterwegs sind, damit er sich nicht zu
billig verkauft.
Aber darauf werde ich nicht mehr warten.
Mir ist es zu spät geworden.
Draußen wird es schon hell.
Andererseits: Manchmal tut sich ja schnell
noch was ... .
Nein, ich haue ab ! Für heute habe ich
von diesen Schönlingen die Nase voll."
5. O-Ton Hentzelt:
Statt zu sehen, dass die Situation als solche eine
gewisse Selbstdarstellung provoziert, wird gesagt, es sei das narzisstische
Gehabe `der Schwulen´, so dass der Blick von der konkreten
Situation abgelenkt wird.
Das Problem dabei ist, dass solche Erfahrungsmuster die Tendenz
haben, sich selber zu bestätigen: Wenn ich ein bestimmtes
Wahrnehmungsmuster habe, mit dem ich an andere Menschen herantrete, dann
habe ich die Tendenz, dies bestätigen zu lassen. Ich halte das
insofern für problematisch, weil immer da, wo wir von einem
Wesen der Schwulen ausgehen -also von einer schwulen Identität,
die im Kern der Persönlichkeit verankert ist- von etwas Unwandelbarem
ausgehen, statt zu gucken, was das Situative ist, was das Konkrete
ist, was dann eventuell auch angegangen und verändert werden
kann.
Oft sind es gar nicht homosexuelle Männer selbst, die die
Unterschiede zur heterosexuellen Mehrheit betonen und damit verfestigen
helfen.
Allein die Existenz zum Beispiel des deutschen Schwulenverbandes
aber auch die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten politischer
Parteien signalisieren das Vorhandensein weiterer Besonderheiten
zusätzlich zur anderen sexuellen Orientierung.
Schon seit einigen Jahren hat die Wirtschaft homosexuelle
Männer
als potentiell kaufkräftige Konsumenten entdeckt, derem `wir´-Gefühl
es zu schmeicheln gilt. `Die Schwulen´ sind politisch noch
immer nicht mitten in der Gesellschaft angekommen, aber die Wirtschaft
ist bereits dabei, sie tatkräftig zu umwerben.
Der an schwulen Männern interessierte Teil der Wirtschaft
macht sich gängige Stereotype zunutze, wie `der Homosexuelle
ist modeinteressiert, markenbewusst und -am wichtigsten- meist gut
bei Kasse, da er ja kein Geld in das Großziehen von Kindern
investieren muss bzw. darf.´ Psychotherapeut Hentzelt:
6. O-Ton Hentzelt:
Wirtschaftliche Belange lassen sich in zwei Richtungen
ausmachen:
Es gibt einmal die speziell kommerzialisierte schwule Szene -
Als da wären: Event-Manager, spezielle Lokalitäten, Zeitschriften,
Verlage, die einfach nur davon leben, dass sie einen schwulen Markt
bedienen;
Und es gibt Tendenzen größerer Firmen, im schwulen
Marktsegment besonders beheimatet sein zu wollen. Beispiele hierfür
wären Jacobs-Kaffee mit einer speziellen Anzeigenkampagne
in schwulen Medien, wie auch die Firma Iglu mit ihren Werbespotts
mit dem schwulen Pärchen.
Dahinter zeigt sich sehr deutlich, dass die Hoffnung besteht,
so etwas wie schwule Identität nutzen zu können für
Werbezwecke. Insofern kann man sicher davon ausgehen, dass die Werbestrategen,
die dahinter stecken, auch ein Interesse daran haben, dass es so
etwas wie `schwule Identität´ gibt.
Erst einmal kann es einen erschrecken, dass wirtschaftliche
Verwertungs-zusammenhänge auch in etwas hineinspielen, was
wir als das Allerintimste überhaupt -nämlich unsere Sexualität-
ansehen; Da herrschen manchmal Wunschvorstellungen, dass das doch
wenigstens reinzuhalten wäre. Ähnliches zeigt sich sehr
deutlich an der Verkitschung des Beziehungsideals - Da ist ganz
klar zu erkennen, inwiefeern Verwertungsmechanismen dort hineinspielen.
Auf der anderen Seite steht die Hoffnung, wir hätten hier
wenigstens einen Bereich, den wir aus der bösen kalten Welt
wirtschaftlicher Interessen heraushalten könnten.
Wenn in den vergangenen Jahrzehnten einzelne schwule Stimmen
bzgl. der eigenen Unterdrückung laut wurden, so richteten
sie sich häufig gegen das herrschende System. Im künstlerisch/kreativen
Bereich übte man sich in Subversion - `Nicht der Homosexuelle
ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt´ nannte
Rosa Von Praunheim 1971 einen seiner wichtigsten Filme;
Im politischen Bereich war man traditionell links angesiedelt.
So wirkten schwule und lesbische Aktivisten in den 70er Jahren
maßgeblich bei der Gründung der GRÜNEN mit, wo sie seither
Gleichstellungspolitik vorantreiben. Dies hatte durchaus Signalwirkung
auf die anderen politischen Parteien, die sich dem homosexuellen
Wählerpotential ebenfalls nicht verschließen wollten.
Die meisten linken Kräfte, so sie sich denn selber noch so
einordnen, versuchen sich mangels Alternative inzwischen mit der
kapitalistischen Marktwirtschaft zu arrangieren. So hat sich für
die Umweltschützer z.B. die ökologische Landwirtschaft
etabliert, die Alt-68er haben es sich im Bundeskanzleramt und auf
den Regierungsbänken gemütlich gemacht. Und ehemals bewegte
schwule Männer ? Haben sie sich inzwischen mit der Erkenntnis
angefreundet, dass Kapitalismus und Homosexualität sehr gut
miteinander vereinbar sind ?
7. O-Ton Hentzelt:
Wenn es nach mir ginge, würde ich mich auch sehr
darüber freuen, wenn in schwuler Identität noch etwas
Subversives liegen würde; Wenn Gesellschaftskritik sich an
so etwas wie `schwuler Identität´ festmachen ließe - Aber
das sehe ich überhaupt nicht mehr. So ist es einfach: Der Kapitalismus
ist in der Lage, alles, was als Subversion gedacht war, selbst
wieder zu verwerten. Das ist die Situation, mit der wir umgehen
müssen und in der es gerade darum geht, sich nicht davon einschüchtern
zu lassen, sondern Freiräume in diesem System zu entdecken.
Aber zu meinen, wir könnten dieses System innerhalb der nächsten
Zeit überwinden, ist nun wirklich eine Illusion.
Nur wenige politische Schwule bedauern den Abschied vom revolutionären
und subversiven Potential, das Homosexualität in den 70er
und frühen 80er Jahren häufig von linksradikaler Seite
attestiert wurde.
Damals sahen manche Marxisten schwule Männer durch die unterstellte
bürgerliche Unterdrückung in einer entfremdeten Lebenssituation
gefangen, die es zu bekämpfen galt.
Heute scheint diese Sicht der Dinge nicht mehr zeitgemäß:
8. O-Ton Wowereit:
Ich bin schwul und das ist auch gut so.
Inzwischen regieren Bürgermeister, deren first `Lady´
ein Mann ist, die beiden größten Städte der Bundesrepublik
und tun offen schwule Männer Dienst in der Bundeswehr. Subversion
als Mittel, gegen gesellschaftliche Verhältnisse anzukämpfen,
hat scheinbar ausgedient.
Bleiben die Tunten - Männer, die Klischees über Schwule
durch Übersteigerungen karikieren. Die Fähigkeit, sich
Freiräume zu erobern, in denen so etwas wie Narrenfreiheit in
puncto Verhalten herrscht, wurde seit jeher von tuntigen Schwulen
kultiviert. Wenn es darum geht, gängige Normen und Werte durch
Persiflierung zu hinterfragen, dann sind es vor allem sie, die immer
wieder Anstoß dazu geben, gängige Frauen- und Männerbilder
zu hinterfragen.
Dies liegt einigen von ihnen im Blut, ohne dass sie sich darüber
Gedanken machen; Andere, wie die Berliner Szene-Größe
Gloria Viagra, hinter der ein linker schwuler Mann steht, genießen
bewusst ihre Angriffe auf die klassischen Geschlechterrollen und
stellen so immer wieder das bipolare Mann-Frau-Schema in Frage:
9. O-Ton Viagra:
Die große Stärke der Tunten war und ist
der Hang zur Selbstironie. Die können anders mit dem, was
sie als Person sind, und dem, was sie darstellen, umgehen als `normale´
-sag ich jetzt einmal- Männer und Frauen.
10. O-Ton Viagra:
Bei Transen und Tunten gibt es eine Spannbreite, die
so vielfältig ist, wie es einzelne Tunten und Transen gibt:
Die reicht vom Berliner Trash-Tuntentum, wo ich eigentlich herkomme
und die noch einmal eine Ironie der Damendarstellung selber bilden
und damit auch eine politische Haltung einnehmen bis zu den typischen
Cabaret-, Glamour- oder Showtransen ... - Was dann aber irgendwann
nur noch bedeutet
`Federn und Pailletten´, die Leute unterhalten und mit einer
bestimmten Grundhaltung nichts mehr zu tun hat oder irgendetwas
in Frage stellt. Das ist eben einfach überhaupt nicht mehr
politisch.
Vielleicht ist die Form der Showtranse einfach veraltet, überholt.
Zu Zeiten, in denen die Fundamente sozialer Sicherung in der Bundesrepublik
erschüttert werden, sehnen sich viele Menschen nach gefestigten
Normen und Werten. Daher wollen die wenigsten grundlegende Rollenverteilungen
persifliert oder gar nachhaltig in Frage gestellt sehen. Es verwundert
kaum, dass heterosexuelle als auch schwule Männer bei härterem
wirtschaftlichem Wettbewerb das Zulassen vermeintlich femininer
Eigenschaften lieber vermeiden.
Nicht zuletzt deshalb wird Tunten und Showtransen von politisch
konservativen Schwulen häufig der vermeintlich durch sie verursachte
Imageschaden vorgeworfen, der ihrer Ansicht nach mit dem Unterstreichen
landläufiger Klischees über homosexuelle Männer
entsteht; Gleichzeitig wird von linker Seite kritisiert, dass Glamourtunten
genau genommen überzeichnete Idealbilder heterosexueller Machomänner
verkörpern und somit ein längst überholtes Frauenbild
persiflieren.
Viel Feind, viel Ehr´ für die Tunten ?
Als Drag Queen, die auf vielen Veranstaltungen vor allem ein schwules
Publikum unterhält, versucht Gloria Viagra häufig, gegen
eingefahrene Vorurteile in bezug auf Tunten anzugehen. Hierbei
wird sie jedoch immer wieder damit konfrontiert, dass das Publikum
von ihr erwartet, Klischees zu bedienen.
Es mag seltsam anmuten, dass gerade homosexuelle Männer Stereotype
bekräftigt sehen wollen. Erklären lässt sich dies allenfalls
damit, dass die Bestätigung von Klischees das eigene Selbstbild
zu stützen vermag, selbst wenn diese Vorurteile mehr schaden
als nutzen.
Gloria Viagra, die auch als Djane in Diskotheken arbeitet, kommt
nach eigenem Bekunden mit dieser Erwartungshaltung großer Teile
ihres Publikums nicht gut zurecht. Sie sieht sich in einer gewissen
Verantwortung, ungute Einstellungen durch ihre Arbeit nicht noch
zu verstärken:
11. O-Ton Viagra:
Ich habe einige Ideen für eine eigene Show, die
natürlich eine politische wäre und Spaß und Politik
miteinander verbindet. Aber ich merke, dass man da ganz schnell
an die Grenzen stößt, was die Leute hören wollen oder
inwieweit es genehm ist. Bis zu einer gewissen Stelle ist es ja
gewünscht aber es stößt dann auch sehr schnell an die
Grenzen, wo es den Leuten zu viel wird. Die Leute müssten sich
dann selber hinterfragen, auch an ihre Grenzen stoßen und
wollen daher eher mit Schenkelklopfern und sonst was abgespeist
werden, weil sich so etwas einfach besser verkaufen lässt.
Ich merke, dass mir damit Grenzen gesetzt werden - z.B. letztes
Jahr beim schwullesbischen Straßenfest sollte ich die Moderation
dann nicht mehr machen, weil ich eben zu politisch bin ... . Wo
man dann tatsächlich ausgeschlossen wird.
Insofern muss ich eben meinen Unterhalt mit Plattenauflegen verdienen
statt mit dem, was ich eigentlich will.
Schwule Männer sind eine durch ihre sexuelle Orientierung
definierte Minderheit. Dadurch, dass Minderheiten sich oft an Mehrheiten
reiben, konnte es passieren, dass das Verhalten der heterosexuellen
Majorität sich im Laufe der Jahre von schwulen Besonderheiten
beeinflussen ließ.
Die traditionell immer schon freizügigere Art homosexueller
Männer findet außerhalb der schwulen Subkultur zunehmend
Nachahmer - Begriffe wie `cruisen´ oder `darkroom´,
die noch bis vor einem Jahrzehnt fast nur in reinen Männerkreisen
gebräuchlich waren, beflügeln zunehmend die Phantasien
auch gemischtgeschlechtlicher Paare.
Filmemacher Jochen Hick über schwule Männer als Vorreiter:
12. O-Ton Hick:
Die Schwulen haben sehr zum sexuellen Leben und
zur sexuellen Aufklärung beigetragen, auch weil sie nicht
so sehr unter dem Ehe-Verdikt leiden. So dass sie hier durchaus
auch eine Vorreiterrolle haben können - Könnten vielleicht
eher, denn man sieht ja, was die Deutschen daraus gemacht haben:
Sie wollten ja unbedingt die `Homo-Ehe´, per-se `Ehe´,
einführen, welches die Franzosen ja nicht so gemacht haben - Dort
gibt es z.B. das Partnerschaftsgesetz. Es wird also nicht alles
wahrgenommen, was wahrgenommen werden könnte.
Dann gibt es noch die Dinge, wie sich Männer als sexuelle
und als körperliche Wesen sehen - Das ist schon sehr durch Schwule
bestimmt gewesen. Und wie man mit gewissen Unterdrückungsmechanismen
in der Gesellschaft umgeht.
Ich vertrete die Meinung, dass Schwule immer eine Minderheit bleiben
und auch nie so `normal´ sein können, wie die Mehrheit,
weil für die Mehrheit `Normalität´ eben Mehrheit
bedeutet.
Dessen ungeachtet gleicht sich die heterosexuelle Mehrheit in
ihrem Verhalten der homosexuellen Minorität immer weiter an:
Soziologen sprechen neuerdings gar von einer `Homosexualisierung´
allgemeiner Lebensstile.
Damit ist die Übernahme von Verhaltensweisen gemeint, die
früher hauptsächlich schwulen Männern, weniger lesbischen Frauen
und vielleicht noch einigen heterosexuellen Dandys zugeschrieben
wurden:
Man lebt mehr oder weniger freiwillig alleine, hat keine Kinder,
unterhält nur noch wenige Bindungen an die Familie und verwirklicht
sich selbst.
Wo es vor einigen Jahrzehnten für die Gesellschaft noch
nicht von
Belang war, ob 3 % der Bevölkerung -Schwule und Lesben- keine
oder nur selten Kinder hatten, so ist für die Bundesrepublik
mittlerweile die de- facto-Übernahme des homosexuellen Lebensstils
durch immer breitere Bevölkerungskreise zu einem großen
Problem geworden. Die demographische Entwicklung verdeutlicht, dass der
unausgesprochene alte Pakt nicht mehr gilt, der Schwule und Lesben
aus der Mitte der Gesellschaft verbannte, in der dann aber -heterosexuell
organisiert- auch für ausreichend Nachwuchs gesorgt wurde.
Noch wird Schwulen und Lesben ihre überwiegende Kinderlosigkeit
politisch nicht zum Vorwurf gemacht. Dies wäre, wo sie in
Adoptionsrecht und künstlicher Befruchtung nach wie vor diskriminiert
werden, auch nicht redlich. Zudem ist nicht ausgemacht, ob eine
vergreiste Gesellschaft zwangsläufig auch eine unglückliche
Gesellschaft sein muss.
Dennoch ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die political
correctness in der Kinderfrage aufgegeben und homosexuellen Männern
wie Frauen ihr einziges biologisches Manko zum Vorwurf gemacht
werden wird.
Jochen Hick plädiert auch in anderen Fragen gegen überzogene
Rücksichtnahme und Tabuisierungen in öffentlichen Auseinandersetzungen:
13. O-Ton Hick:
Die political correctness ist fast das
Schlimmste, das `den Schwulen´ passieren kann. Sie ist relativ
weit fortgeschritten und geht so weit, dass Redakteure in Fernsehanstalten
schwule Regisseure fragen `Aber könnte das nicht irgendwie
als Angriff oder Diskriminierung von Schwulen gesehen werden ?´
und sich darüber unheimlich viele Gedanken machen. Das ist
aber insofern wieder verlogen, weil dies dann oft eher noch als
Ablehnungsgrund von irgendwelchen Projekten hergenommen wird.
Je stärker die political correctness, desto stärker
ist auch die Schattenseite davon: Leute, die dann in privatem Rahmen
sehr aggressiv auf Schwule sind. Ich habe ja den Film `Ich kenn´
keinen - Allein unter Heteros´ gemacht, wo man genau sehen
kann, dass abseits von den großen Medienbetrieben und abseits
der Großstädte, wo man gewisse Dinge überhaupt
nicht sagen kann -denn dann wär´s sofort in den Medien oder
die Leute würden mit dem Finger auf einen zeigen- sehr wohl
noch so viele unkorrekte Aussagen sind, dass man eigentlich erwarten
könnte, dass es diese auch in den Großstädten gibt,
nur eben die Leute dort sich´s gerade noch nicht trauen. Und
ich glaube, sobald da mal etwas passiert, sind die Leute ganz glücklich,
wenn sie ihre Wut wieder an den Schwulen auslassen können.
In den elektronischen Massenmedien hat sich die Darstellung von
Homosexualität und homosexuellen Männern in den letzten
Jahrzehnten stark gewandelt. Sowohl vor als auch hinter der Kamera
bzw. dem Mikrofon fanden Veränderungen statt: Noch vor 25
Jahren wurden Schwule überwiegend als Bürgerschrecks
in Szene gesetzt; wurden Zuschauer oder Zuhörer in diesem Zusammenhang
mit lauten Filmemachern oder schrillen Künstlern konfrontiert.
Heute treffen die Medienkonsumenten auf zahlreiche scheinbar weichgespülte
schwule Bürgerlieblinge - Schlagersänger, Komiker oder
Showtransen.
Medienaktrice Gloria Viagra:
14. O-Ton Viagra:
Inzwischen hat ja selbst die Werbeindustrie die Transen
als Sympathieträger entdeckt ... . Das ist alles kein Unding
mehr heutzutage. Vielleicht ist es ein Zeichen von Normalität,
aber ob es ein Fortschritt ist, ist halt wirklich die Frage.
Auf der anderen Seite gibt´s Leute, wie diese ganzen Comedians
im Privatfernsehen - Die verstoßen absichtlich gegen die
political correctness und machen derbe Scherze auf Kosten von Minderheiten.
Das ist traurig, aber anscheinend wollen die Leute so etwas sehen.
Es ist halt salonfähig oder ein Quotenbringer.
Das Problem bei der political correctness ist, dass sie einerseits
überstrapaziert wird, also mit ihr Widersprüche sozusagen
zugespachtelt werden - Auf der anderen Seite sind Minderheiten,
wie Schwule und Lesben, darauf angewiesen; Weil es auch bestimmte
Tabus gibt, die es nicht zu brechen gilt.
Das Fernsehen behauptet sich nach wie vor als das wichtigste
elektronische Massenmedium in Deutschland. Daher ist es auch heute
nicht unerheblich, wie Homosexualität in TV-Sendungen dargestellt
wird,
sei es innerhalb erfundener Handlungen oder in Form von Dokumentationen.
Jochen Hick, der einige seiner Kinofilme durch das Fernsehen koproduzieren
ließ, über Schwule im Fernsehen:
15. O-Ton Hick:
Schwule kommen mittlerweile in sehr vielen Sendungen
vor, nach wie vor aber mehr am Rande. Lustigerweise sind sie ja
doch nie Hauptfiguren - Oder kann sich jemand erinnern, um 19 Uhr
30 im ZDF oder um 20 Uhr 15 in der ARD ein Fernsehspiel mit den
Hauptfiguren, einem schwulen Paar gesehen zu haben ?
Das kommt daher, dass man sieht: Es gibt einen gewissen Markt
an schwulen Zuschauern und die haben natürlich nicht immer Lust, Filme
zu sehen, die mit dem kleinsten Budget gemacht werden -Denn, wenn
einer mit einem schwulen Script ankommt, dann gibt es nun mal kein
Geld in diesem Land- und die Lust haben, Stars und teures Kino
mit schwulen Figuren zu sehen; Die dann aber oft überhaupt
nicht mehr den Unterschied wahrnehmen zwischen originären
Sachen und anderen, weil ja ohnehin heutzutage der Unterschied nicht
mehr gesehen wird: Weil a) die Formen teilweise ein bisschen verschwimmen
und b) eigentlich gar nicht so viel Wert auf Authentizität
gelegt wird.
Jochen Hick hat durch seine besonders in den USA sehr erfolgreichen
Filme `Via Appia´ und `No one sleeps´ Erfahrungen mit
der kompromisslosen Darstellung männlicher Homosexualität
in Mainstream-Medien gesammelt.
Hierbei musste er damit umzugehen lernen, dass ein Publikum, hetero-
aber auch homosexuell, welches bei Filmen ganz überwiegend
an das `Frau trifft Mann´-Schema gewöhnt ist, auf `Mann
kämpft um Mann´-Geschichten zum Teil verstört reagiert.
Sind Filme dieser Art als Provokation einzuordnen, als Zumutung
für die Zuschauer ?
16. O-Ton Hick:
Ich denke nicht, dass ich sehr aggressiv in meinen
Sachen bin. Es ist vielmehr so, dass sehr viele Heterosexuelle
manche Dinge gleich als super-aggressiv ansehen. Bei `No one sleeps´
ist ja nicht wirklich eine Sexszene und man sieht eigentlich auch
nicht eine real passierende Gewaltszene in dem ganzen Film - Aber
trotzdem mag es natürlich für ein heterosexuelles Publikum
eine ganze Lawine an Phantasien lostreten. Ein Publikum, das gleichzeitig
permanent auf VOX oder auf RTL2 viel brutalere oder sexuell explizitere
Filme sieht. Extrem explizitere: Also jede kleinste hetero-sexuelle
Pornoreklame, die auf VOX läuft -`Ruf mich an´ oder
sonst was- ist sehr viel brutaler als das, was ich mache.
Aber das ist ja gerade das Phänomen: Egal, wie man´s
macht - Es wird die Leute immer schockieren. Es wird auch insofern
sehr viele Schwule schockieren, weil die ja immer denken, sie werden
mit so was -weil es ja so wenige Bilder über Schwule gibt-
gleichgesetzt, identifiziert oder sie müssten das jetzt sein;
Oder sie müssten sich dafür verteidigen; Es würde
etwas von ihnen preisgegeben. Das sind ganz schwierige Mechanismen,
mit denen man immer zu kämpfen hat. Es ist alles sehr relativ
und man sollte die Kirche im Dorf lassen, was hart ist und was nicht
so hart ist.
Naturgemäß hart ist die Auseinandersetzung mit AIDS
im Rahmen von Kino- und TV-Filmen.
Auch zu Beginn des neuen Jahrtausends hat die Krankheit kaum etwas
von ihrem Schrecken eingebüßt. Die Lebensqualität vieler
Infizierter und Kranker konnte durch Erfolge in der medizinischen
Forschung zwar um einiges verbessert werden - AIDS ist jedoch nach
wie vor eine tödlich verlaufende Krankheit. Man glaubt es
kaum, liest man in schwulen Stadtmagazinen die ganzseitigen Hochglanzanzeigen
der Pharmafirmen; Man soll es vermutlich auch nicht glauben, weil
eben diese Anzeigen suggerieren, eine HIV-Infektion sei eigentlich
gar nicht so schlimm, könne das Leben unter Umständen
sogar bereichern.
Angesichts solcher Verharmlosungen scheint es nicht verwunderlich,
wenn in den selben Zeitschriften, in denen die Pharma-Riesen für
Ihre Pillen werben, schwule Pornofilme lanciert werden, in denen
die Darsteller auf Safer sex verzichten, sogenanntes `barebacking´
betreiben. Viele Hersteller derartiger Produkte argumentieren damit,
dass der Anblick von Kondomen die Zuschauer stören würde.
Der Psychologe Frieder Hentzelt vermutet hingegen, dass durch das
Ignorieren der Infektionsgefahr contra-phobische Bedürfnisse der
Konsumenten befriedigt werden sollen.
Dieses Beispiel offenbart eine besonders zynische Seite des neoliberalen
Kapitalismus - Die Moral ist im Hinblick auf die Gesundheit vieler
Menschen in der modernen Gesellschaft auch bei homosexuellen Männern
längst individualisiert worden: Jeder trägt für
sich selber die Verantwortung - Unwissenheit, Verdrängung
oder Unreife gelten nicht als Ausrede.
In den Massenmedien wird AIDS inzwischen immer seltener thematisiert.
Filmemacher Jochen Hick setzt die Krankheit mittlerweile ebenfalls
eher als Spannungselement in seinen Geschichten ein. Dennoch sieht
er die Filmthematik `HIV´ auf absehbare Zeit nicht als erledigt
an:
17. O-Ton Hick:
Das Thema AIDS ist bestimmt
nicht vorbei. Neuerdings gibt es bei AIDS ganz
andere Fragen, so z.B.: `Was machen die ganzen Leute, die auf einmal
mehr Lebenszeit geschenkt bekommen haben ? Die ursprünglich
dachten, sie würden gar nicht mehr so lange leben. Was machen
die jetzt eigentlich ? Fangen die wieder an zu arbeiten ? Wie kommen
sie zurecht ? Wenn sie Frührentner sind: Was ist das eigentlich
für ein Leben ? Wie kommen sie mit ihren Depressionen und dem
Nichtstun zurecht ?´
Zusätzlich gibt es dann natürlich noch die Trennung
zwischen Positiven und Negativen, die jetzt ganz klar ist: Die
einen wollen genau das bleiben und die anderen sind schon das - Das
sind ja durchaus soziale Fraggen.
Es geht nicht per se um das Thema AIDS, denn das ist immer
nur ein Katalysator; Letztendlich geht es um soziale Strukturen:
Wie eine Minderheit sich selber formiert und was es dabei für
Gesetze gibt. Lustigerweise ist manchmal der Grund, dass gerade
von einem heterosexuell bestimmten Fernsehen oder Redakteursgewerbe
oft die AIDS-Themen am liebsten genommen werden, damit klar klassifizierbar
ist: `Wenn wir etwas über Schwule bringen, dann sind sie gleich
krank oder vom Tode bedroht.´
Während nach 1968 mehrere Generationen homosexueller Männer
herangewachsen und sozialisiert worden sind, fand eine Normalisierung
des schwulen Lebens statt. Das bedeutet eine Angleichung an die
in der Gesellschaft üblichen Lebensverhältnisse: Auch
hier leben die meisten Erwachsenen überwiegend innerhalb ihrer
eigenen Altersgruppen. Selbstverständlich gibt es noch die
Eltern, die Großeltern, die Tanten und natürlich bildet
die Familie nach wie vor eine entscheidende Instanz - Aber viele
Bereiche des geselligen Lebens finden in erster Linie unter
Gleichaltrigen statt.
Daher sollte das Älterwerden für
den schwulen Mann eigentlich kein größeres
Problem darstellen als für den heterosexuellen -
Letzterer gilt um die 50 klassischerweise als `Mann in den besten
Jahren´. Dass Frauen dasselbe Gütesiegel im entsprechenden
Alter nicht auch für sich beanspruchen können, steht -und
dies hat ebenso Tradition- auf einem anderen Blatt geschrieben.
Der Soziologe Michael Bochow über den Herbst des schwulen
Lebens:
18. O-Ton Bochow:
Es gibt einen spezifischen Jugendkult unter Schwulen.
Dieser ist zum Teil auch angesiedelt im gesellschaftlichen Mainstream.
In den letzten 20 Jahren noch verstärkt durch die neuen Medien,
das Immer-Weiter-Wuchern von Werbung und die öffentliche Darbietung
von Idealtypen; Von Models im Sinne von `so sollen alle Leute aussehen´.
Innerhalb dieser Bereiche mögen Schwule manchmal Trendsetter
sein - Die Frage ist jedoch, ob sie es wirklich in dem Ausmaß
sind, wie sie es in ihrer Selbststilisierung beanspruchen.
Wie auch immer - Den Jugendfetischismus haben `die Schwulen´
weiss Gott nicht erfunden. Um es überspitzt auszudrücken:
Jeder Hetero möchte auch lieber mit Claudia Schiffer als mit Mutter
Beimer in´s Bett.
Ich sehe es im schwulen Leben nicht so, dass es dort eine `chinesische
Mauer´ zwischen den Generationen gibt. Sicher haben es viele
ältere Schwule schwer, in bestimmte Orte zu kommen, zu denen
sie gerne hingegangen sind als sie jünger waren. Viele wollen dort
aber gar nicht mehr hin, weil sie durch diese Phase hindurch sind.
Sie haben, genau wie entsprechende Hetero-Männer, andere Netzwerke
aufgebaut, die für sie vor allem emotional viel bedeutsamer
sind als das Tanzlokal.
Die Jugendkultur, vor allem die Popmusik, fixiert sich in Deutschland
- dem US-amerikanischen Vorbild folgend- auf stark an der Unterschicht
orientierte Ausdrucksformen. Gerade Rap-, R&B- und HipHop-Musik
sind unter männlichen Jugendlichen sehr beliebt. In deren
Texten und Darstellungen in Videoclipps werden patriarchalische
Lebensweisen glorifiziert: Wo in den 70er Jahren Glamrocker und
in den 80ern androgyne Discosänger das Musikbusiness bestimmten,
wetteifern seit den 90er Jahren Rapper mit Gangster-Image auf den
Musikkanälen in ihren Texten und Bildern darum, wer von ihnen
der härteste Macho ist oder wer bereits am längsten im Gefängnis
saß.
Auch wenn der Einfluss der Massenmedien nicht überschätzt
werden sollte, bleibt diese erstaunlich langlebige Mode nicht ohne
Folgen für Normen und Werte junger Männer in Deutschland,
insbesondere solcher aus Migrantenfamilien.
Die Probleme für homosexuelle Männer werden hierdurch
nicht geringer. So sehen sich z.B. schwule Schüler in Großstädten
mit türkisch- oder arabischstämmigen Mitschülern
konfrontiert, für die westlich gelebte Homosexualität völlig
inakzeptabel ist und das eigene Selbstbild als Mann ins Wanken
bringt.
Der Soziologe Michael Bochow hat sich mit Homosexualität
in der islamischen Welt auseinandergesetzt und stellte dabei heraus,
dass das Schlimmste für einen Mann in diesem Kulturkreis ist,
sich nicht als Mann zu verhalten. Das bedeutet, dass alles Unmännliche
-in erster Linie Frauen- sich den richtigen, den aktiven Männern
unterzuordnen hat:
19. O-Ton Bochow:
In diesem Unterordnungsmodell sind `die Schwulen´
nicht vorgesehen - So etwas gibt es nicht. Insofern ist eine
Kategorie wie `homophob´, die man den Türken oder den
Arabern auf´s Auge drückt, zum Teil sehr unpassend,
weil sie zu wenig erklärt, was dabei für Vorgänge ablaufen.
Ich setze sehr auf den Integrationswillen bzw. auf den Willen
zum beruflichen Erfolg; Und dieser läuft bei jungen Türken
nur über Integration. Was man sich auch vor Augen halten muss:
Die rückwärtsgewandte Haltung, die auf traditioneller
Männlichkeit insistiert, findet man eher bei den `drop outs´
- Unter den 40% der jungen Erwachsenen,, die arbeitslos sind; Man
wird sie weniger bei beruflich integrierten oder beruflich erfolgreichen
jungen Türken finden.
Auf mittlere Sicht besteht die Hoffnung, dass sich auch türkische
Familien als dominante Migrantengruppe dem mitteleuropäischen
Umgang mit Homosexualität annähern.
Bis dahin sind nach Michael Bochow die deutschstämmigen Schwulen
aufgefordert, mit gutem Beispiel voranzugehen und z.B. junge türkische
Schwule nachhaltiger zu integrieren. Selbst wenn nach seiner Ansicht
die vielbeschworene `gay community´ -die schwule Gemeinschaft-
lediglich eine Fiktion ist - Manchmal aber, wie in diesem Fall,
eine notwendige Fiktion.
Natürlich gibt es auch unter Migranten junge Schwule. Diese
stehen häufig in Konflikt zwischen dem Wunsch an Teilhabe am
liberaler gewordenen Umgang mit Homosexualität auf Seiten der deutschen
Wohnbevölkerung und des meist sehr repressiven Umgangs mit
diesem Thema unter Migranten. Nicht nur, aber eben häufig auch
in türkischen Familien.
20. O-Ton Bochow:
Schwule Türken haben im Gegensatz zu ihren jugendlichen
Mittürken nicht die Möglichkeit des Rückgriffs auf
die Familiensolidarität, weil sie als Schwule Außenseiter
sind. Sie müssen noch viel vorsichtiger sein als junge schwule
Deutsche, weil es besonders stark geahndet wird, als Türke
schwul zu sein.
Türken haben in der schwulen Subkultur den Exotenbonus. Dieser
ist jedoch ein sehr fragwürdiger Bonus: Sie fühlen sich
von Deutschen oft zum Sexualobjekt herabgestuft und beklagen ein
mangelndes Verständnis und mangelnde Solidarität, die bezug nimmt
auf ihre besonders schwierige soziale Situation als schwuler Türke,
der nicht so ohne weiteres mit seiner Familie brechen kann oder
will.
Über sehr lange Zeit hinweg wurden homosexuelle Männer
in Deutschland unterdrückt. Ihr Außenseitertum kompensierten
sie dabei häufig durch übersteigerte Selbstinszenierung.
Schon Dannecker und Reiche betitelten 1974 ein Kapitel ihrer Studie
über den `gewöhnlichen Homosexuellen´ mit der Feststellung
`Aber teuer muss es sein`.
Unter Journalisten wurde es ebenfalls zur liebgewonnenen Gewohnheit,
Schwule als besonders wohlsituiert und gebildet zu verklären.
Doch ganz so rosarot sieht ihre Welt auch heute noch nicht aus
-
Homosexuelle Männer behaupten sich zu einem großen
Teil in verschiedenen Dienstleistungsbereichen, sind daher allenfalls
der Mittelschicht zuzurechnen. Und wie es selbstverständlich
erfolgreiche und kreativ tätige Schwule gibt, existiert eben
so eine Unterschicht bei Männern, die auf Männer stehen.
Nach dem Soziologen Bochow haben es diese Schwulen innerhalb `der
Szene´ nicht einfach:
21. O-Ton Bochow:
Ein Großteil der `gay community´ besteht
aus subkulturellen Orten -
Und Bars, schwule Cafés und Kneipen sind nun einmal keine
Arbeiterwohlfahrt. Man muss nur einmal darüber nachdenken,
was z.B. Getränke in schwulen Kneipen kosten. Es funktionieren
dort also Filter, Geld-Filter, die einen Teil der Unterschichtsschwulen
einfach aussondern, weil ihnen diese Welt zu teuer ist. Diese Welt
ist nicht ihre Welt. Das hat auch etwas mit Verkehrsformen zu tun:
Viele schwule Bars sind in ihren Verkehrsformen auch wiederum mittelschichtsdominiert
- Wo eine bestimmte Art zu reden angesagt ist; Übrigens auch
eine Art zu reisen und darüber zu erzählen. Auch hiermit
können viele schwule Unterschichtsangehörige nicht konkurrieren.
Ich glaube, sie sind in mancher Hinsicht weniger gefährdet,
den Lügen des Systems zu glauben und sie haben zum Teil ein
viel realistischeres Bewusstsein von `unten´ und `oben´.
Realistischer als das vieler kleinbürgerlicher Schwuler, die nach
wie vor einen großen Aufstiegswillen haben.
Ausgrenzung erfolgt über Geld und -damit eng verbunden- dem
äußeren Erscheinungsbild.
Es wird deutlich, dass auch homosexuelle Männer sich untereinander
häufig weniger tolerant verhalten als es von Angehörigen
derselben Randgruppe anzunehmen wäre. Gloria Viagra, die in
den alternativen Schwulenkreisen der Hauptstadt beheimatet ist, über
den Konformitätsdruck unter Männern, die Männern
gefallen wollen:
22. O-Ton Viagra:
Ich denke, dass bei den Schwulen genau so Ausgrenzungsmechanismen
vorhanden sind, wie bei den Heten. Da läuft ganz viel über
Kleidung und Aussehen. Ich weiß auch aus meiner Vergangenheit,
dass Leute, die anders aussehen oder anders gekleidet sind -gerade
die linken Schwulen-, ganz schnell von den anderen ausgegrenzt
wurden. Daher denke ich, dass der homosexuelle Mainstream tatsächlich
teilweise noch extremer und uniformer ist als der heterosexuelle.
Mein Wunsch wäre, dass Schwule genau wie alle anderen Randgruppen
und Minderheiten von Natur aus solidarisch miteinander umgehen
und von sich aus linker eingestellt sind. Aber dem ist einfach
nicht so. Nicht so, wie ich es wahrnehme. Leider. Es ist keine Realität
und ich kann nur sagen: Die Schwulen sind genau so blöd wie
die Heten.
In einem Internet- Diskussionsforum für Schwule wurde
kürzlich die Frage erörtert, ob die Reaktion der Veranstalter
einer schwulen Sexparty gegenüber einer Transgender-Frau korrekt
war, die an dieser Veranstaltung teilnehmen wollte, jedoch von
den Partymachern abgewiesen wurde. Es wurde kolportiert, dass die
Veranstalter befürchteten, die Anwesenheit einer biologischen Frau,
die sich als Mann fühlt -als schwuler Mann- könne bei
den übrigen Teilnehmern der Sexparty zu einer Ernüchterung
führen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es mitunter auch Angehörigen
von Minderheiten schwer fällt, mit Exoten in den eigenen Reihen
auf die sensibilisierte Weise umzugehen, die sie selber von der
Mehrheitsgesellschaft einfordern.
Von einem einheitlichen Bild, dass schwule Männer sich in
Sachen Einkommen, Bildung oder auch Toleranz von der heterosexuellen
Bevölkerung abheben, kann also keine Rede sein. Michael Bochow
macht dennoch eine Besonderheit der schwulen Subkultur aus, die sie
tatsächlich von anderen Subkulturen wie Fußballfans oder
Opernliebhabern im positiven Sinne abhebt.
Auch wenn es mit Sport- und Musikfreunden natürlich Schnittmengen
gibt:
23. O-Ton Bochow:
Es gibt jedoch etwas in der schwulen Welt, das einzigartig
ist und was ich sehr positiv definieren würde als Unterschied
gegenüber der heterosexuellen Welt: Es gibt viele schwule
Orte, an denen sich soziale Schichten in einer Weise mischen, wie
es in anderen gesellschaftlichen Bereichen ungewöhnlich ist
- Das sind die Darkrooms der Lederkneipen oder die schwulen Saunen oder
die `Klappen´, wo manche Schwule sich treffen; Es sind alles
Orte, an denen der Generaldirektor auf den Hilfsarbeiter treffen
kann.
Die Standortbestimmung schwuler Männer in Deutschland ergibt,
dass diese Bevölkerungsgruppe dem sozialen Wandel genau so
ausgesetzt ist, wie die Mehrheit der Menschen. Allenfalls kann festgehalten
werden, dass wenn sich ein Mann heute als `schwul´ bezeichnet,
die Leute hierdurch weniger über ihn und sein Leben zu wissen
glauben als noch vor 20 oder erst recht vor 50 Jahren und dass
diese Einschätzung zutrifft.
Große Teile der Bevölkerung begrüßen die
Integrationsbemühungen der Politik in Hinblick auf homosexuelle
Männer und Frauen. Diese scheinen von der fortschreitenden
Individualisierung in der Gesellschaft zu profitieren.
Schwule Männer bleiben jedoch nach wie vor eine kleine Minderheit
der Bevölkerung, denn die erfreuliche und teilweise hart erkämpfte
Liberalisierung der Gesellschaft hat ihren prozentuellen Anteil,
anders als von manch konservativem Scharfmacher prognostiziert,
mitnichten erhöht.
Heutzutage ist es allenfalls ein gutes Stück einfacher geworden,
gegenüber anderen zur eigenen Veranlagung zu stehen - Für die
meisten bleibt dies schwierig genug.
Sicher werden auch in Zukunft Eltern enttäuscht sein, wenn
der Sohn sich outet, werden manche seiner Weggefährten sich
nach diesem Bekenntnis von ihm abwenden, werden in ihrer Männlichkeit
verunsicherte Heterosexuelle sich Schwulen gegenüber aggressiv
verhalten und manches Frauenherz gebrochen -
Sollte es für alle diese Erschwernisse nicht einen Ausgleich geben,
der sie zumindest teilweise wieder aufwiegt ?
Das Besondere im Schwulsein ? Das Andersartige, was homosexuellen
Männern seit jeher angedichtet worden war. Ist es ihnen im
Sog des Normalisierungsstrudels inzwischen nicht längst abhanden
gekommen ?
Das avantgardistische Lebensgefühl; Die Verlockungen einer
tabuisierten
Sexualität; Die größere mentale Nähe zu Frauen; Das
Überwinden einengender Geschlechterrollen; Das Gemeinschaftsgefühl
unter Außenseitern ... .
Sicher wünscht sich niemand die Repressionen gegen Schwule
aus früheren Zeiten zurück - Aber muss die Gegenreaktion auf die
Unterdrückung homosexueller Männer zwangsläufig
in ihrer vollständigen Entzauberung bestehen ?
In letzter Konsequenz würde diese Normalisierung zur Folge
haben, schwule Männer lediglich als regenbogenfarbene Zielgruppe
für die Wirtschaft wahrzunehmen; Als bewährte Wählerklientel
für eine bestimmte politische Partei; Und die vielleicht letzte
Hoffnung für die Hochzeitsausstatter.
Vermutlich wird es so kommen und so wird er dann aussehen –
Der Preis für die Normalisierung.