Endlich normal ?
Schwuler Wandel in Deutschland

Feature (2005)

Ludwig Kamberlein (Hg.)



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befragte Experten:
Michael Bochow (Soziologe), Jochen Hick (Filmemacher),
Frieder Hentzelt (Psychologe), Gloria Viagra (Partygröße)


O-Ton-Collage  Hentzelt/Viagra/Bochow/Hick:
Du weißt ja, wie Schwule sind ... Die Schwulen sind genau so blöd, wie die Heten ... Diese Welt ist nicht ihre Welt ... Man sieht ja, was die Deutschen daraus gemacht haben .

Als im Herbst 1998 die gerade gewählte rot-grüne Bundesregierung ihre Arbeit aufnahm, widmete sie sich umgehend einem innenpolitischen Thema: Der rechtlichen Emanzipation homosexueller Lebensgemeinschaften. Das Für und Wider der sogenannten `Homo´-Ehe stand über Monate auf der politischen Agenda. Für den kleinen Anteil an heiratswilligen Paaren bei  Deutschlands Schwulen und Lesben sollte sich rechtlich einiges ändern. Und auch in der Ampel-Regierung unter Kanzler Olaf Scholz genießen schwule und - wie viele neuerdings sagen 'queere' - Anliegen klare Priorität.
Moderne Gesellschaften, wie die der Bundesrepublik, tendieren dazu, Minderheiten und Randgruppen verstärkt integrieren zu wollen.
So findet in den Lebenswelten schwuler Männer, die mit jenen lesbischer Frauen schwer zu vergleichen sind, seit einiger Zeit ein beschleunigter Normalisierungsprozess statt.
In dessen Verlauf zeigt sich immer deutlicher, worin wirkliche Wesensunterschiede zu heterosexuellen Männern liegen; Es wird erkennbar, wo Gegensätze bisher überbetont oder gar konstruiert wurden; Und es tritt offen zu Tage, wo vermeintlich schwule Eigenschaften lediglich aufgrund der Benachteiligung homosexueller Männer in vielen Lebensbereichen entstanden.

Wenn ein Mann sich als `schwul´ bezeichnet, dann wird in der Regel davon ausgegangen, dass diese Eigenschaft neben seiner Sexualität auch sein Sozialleben beeinflusst. Häufig werden zudem weitergehende Rückschlüsse -berechtigt oder nicht- in bezug auf seine Gesundheit, seinen Geldbeutel, seine Mobilität oder seine körperliche Erscheinung angestellt.
 
Natürlich gibt es `den´ Schwulen ebenso wenig wie `den´ Teetrinker oder `den´ Spanien-Urlauber und selbstverständlich sind Männer neben ihrer sexuellen Orientierung auch noch von anderen Eigenschaften geprägt - Das Schwulsein scheint sich für die verbleibenden Lebensbereiche jedoch als besonders folgenreich zu erweisen.

Bei Betrachtung der letzten Jahrzehnte ist festzustellen, dass schwule Männer große Fortschritte erzielen konnten:

Die Politik ist dabei, homosexuelle Lebensformen denen der heterosexuellen Mehrheit rechtlich anzugleichen;
Die Wirtschaft richtet immer mehr Werbestrategien nach den vermeintlichen Bedürfnissen schwuler Männer aus;
Im Bereich von Medien und Kultur spielen sie wie gewohnt  -jedoch zunehmend offener- eine wichtige Rolle;
Medizinisch sind sie -nicht zuletzt in Hinblick auf Aids- ihren spezifischen Bedürfnissen gemäß sehr gut versorgt.

`Die Schwulen´ als gesellschaftliche Gruppe haben also Fortschritte in ihrer Integration gemacht. Doch es gibt auch Fehlentwicklungen:

Wegen der Political Correctness werden Konflikte mit der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft tabuisiert;
Schwule Männer werden von den Massenmedien als lebensfrohe Trendsetter und kaufkräftige Konsumenten verklärt;
Hedonismus und Jugendwahn führen häufig zu Vereinsamung und psychischen Störungen.

Wenn man herausstellen will, wo schwule Männer in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen, müssen ermutigende und problematische Entwicklungen gleichermaßen Berücksichtigung finden.

Sind schwule Männer wirklich anders ? Teilen sie außer ihrer sexuellen Orientierung noch andere Besonderheiten miteinander, die sie von heterosexuellen Männern unterscheiden ?
Es existiert keine schwule Identität, kein speziell schwules Wesen. Dafür sind homosexuelle Männer untereinander zu unterschiedlich; Wie auch die heterosexuellen.

Dennoch gibt es Veranstaltungen, wie die Christopher- Street-Day-Paraden der Schwulen und Lesben in nahezu allen größeren Städten der Bundesrepublik. Dabei zelebrieren jedes Jahr zehntausende Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien wichtige Gemeinsamkeiten und mahnen gleichzeitig gesellschaftliche Veränderungen an.

Die Erfahrung solch eines gefeierten `wir´-Gefühls kann manchem Schwulen sicher eine Stütze sein. Zumal alte Identitätsstifter, wie die Nation, die Kirche oder die Familie mittlerweile sehr an Bedeutung eingebüßt haben. Dennoch warnt Psychotherapeut Frieder Hentzelt vor Selbsttäuschungen:

2. O-Ton Hentzelt:
Die Vorstellung einer schwulen Identität, also eines schwulen Wesenskerns, ist durchaus nicht unproblematisch. Dies lässt sich an verschiedenen Beispielen recht deutlich zeigen: Das erste wäre die Frage `Bin ich nun eigentlich schwul oder nicht ?´ - Da könnte ich aus der Beratung durchaus Beispiele bringen von Menschen, die kommen und sagen `Ich weiss gar nicht, ob ich schwul bin oder nicht.´
Hier schiebt sich so etwas, wie die Vorstellung, es gäbe etwas wie Schwule und Nicht-Schwule -also diese Zweiteilung der Menschheit; Oder der Männlichkeit- zwischen diese Menschen und ihr eigenes Erleben. Das heißt, sie fragen nicht `Was empfinde ich ? Wie möchte ich mit meinen Empfindungen umgehen ? Wie kann ich meine Empfindungen nutzen für soziale Kontakte, für das Zusammensein mit anderen Menschen ?´ sondern sie fragen `Wie lässt sich mein Empfinden katalogisieren ?´.
Und das muss dann auch noch in so einem platten Zweierschema schwul/nicht-schwul geschehen

Ganz besonders schwierig wird dies bei Menschen, die eine Veränderung bei sich feststellen. Zum Beispiel bei Menschen, die ihren Sex bisher nur mit Männern hatten und plötzlich feststellen, dass sie sehr glücklich mit Frauen sein können und sich daraufhin fragen `War ich früher in Wirklichkeit gar nicht schwul ?´, welches eine völlig überflüssige Frage ist - Statt zu schauen `Was empfinde ich jetzt eigentlich ?´ wird gefragt `Wie kann ich es einsortieren ?´


Es stellt sich die Frage, wer an der Einteilung `homosexuell und heterosexuell´ ein Interesse hat - Vielleicht der Mann und die Frau auf der Straße, die , gibt jemand sich ihnen als schwul zu erkennen, sofort glauben, einen wichtigen Teil von ihm zu kennen. Und dass er eben irgendwie anders ist als ... als irgendwelche anderen.

Dieses landläufige Wissen basiert auf Erzählungen, auf Vorurteilen und manchmal auch auf eigenen Erfahrungen. Selten ist es im luftleeren Raum entstanden. So haben diese vermeintlichen Gewissheiten zur Existenz des `Phantoms´ eines besonderen schwulen Wesens beigetragen.

Homosexuelle Männer tun sich keinen Gefallen damit, angebliche Unterschiede zu ihren heterosexuellen Geschlechtsgenossen zu sehr zu verinnerlichen. Das Festhalten an scheinbar schwulen Eigenschaften wirkt aus psychologischer Sicht viel mehr störend auf den persönlichen  Umgang zwischen homosexuellen Männern:

3. O-Ton Hentzelt:
Ein klassisches Beispiel aus der Beratung wäre: Ein Mann, der sich von seinem Freund getrennt hat, über ihn klagt und irgendwann sagt `Aber Du weißt ja, wie Schwule sind ... .´. Oder aus einem Verein, wo ich gerade großen Ärger erlebt habe, und dort plötzlich gesagt wird `Naja - Ist ja auch ein schwuler Verein. Da ist so was völlig erklärlich ... .´.
Hier wird nicht mehr nach den konkreten Dingen gefragt; Was es ist, was konkret die Situation so schwierig gemacht hat - Sondern es löst sich auf in so etwas Allgemeines, was eben schwul sein soll. Dabei finde ich es ganz erstaunlich, was in solchen Beratungssituationen alles schon als `typisch schwul´ bezeichnet wurde: Da sollen `die Schwulen´ besonders ordnungsliebend und zwanghaft sein und genauso gut kann gesagt werden, dass sie besonders chaotisch sind; Es kann gesagt werden, dass Schwule überhaupt nicht gefühlsfähig sind, also gefühlskalt wären -alle so abgebrüht und cool- oder dass sie ganz besonders gefühlsbetont wären - Es gibt wirklich alles, was sich dann in dieser großen `schwulen Identität´ auflösen kann.


Schwule Männer als freiwillige Bewahrer der über sie kursierenden Vorurteile ? Als Hüter der Stereotype, unter denen viele zu leiden vorgeben ? Denen die starren Vorbehalte großer Teile der Gesellschaft gegenüber Homosexualität das Leben schwer, manchmal gar unerträglich machen ?

Vorurteile müssen sich nicht zwangsläufig schädlich auswirken: Sie helfen manch einem, sich in der komplexen modernen Gesellschaft zurechtzufinden. Laut Frieder Hentzelt verfälschen sie jedoch häufig die gegenseitige Wahrnehmung zwischen Schwulen, zum Beispiel in gemeinsam genutzten Einrichtungen ihrer Szene:

4. O-Ton Hentzelt:
Ein klassisches Beispiel hierfür wäre die `cruising area´: Ein Bereich, in dem schwule Männer sich sehen und schnell zum sexuellen Kontakt miteinander kommen können. Dort wird häufig gesagt `Mir geht dieses narzisstische Gehabe der Schwulen auf den Nerv.´

Wer kennt sie nicht - Jene typischen Gedanken, die mann sich sonntags früh in einer verrauchten Kneipe macht ... ?

"Und alle stehen sie wieder cool herum. In den Ecken, ziehen an ihren Zigaretten.
Das könnte ich eigentlich auch mal wieder tun.

Und jeder wartet. Ich warte auch. Eigentlich würde ich lieber nach Hause.
Es ist spät, 4 Uhr durch.
Ist das öde ! Keiner sieht mich an, niemand fragt mich was.
Sind sie alle wieder cool heute Abend ! Auf wen warten die denn noch ?

Na, schau mal an - Da kommt tatsächlich noch ein frisches Exemplar durch die Tür !
Noch nie hier gesehen, prima.

Aber er guckt nicht einmal in meine Richtung.
Typisch schwul: Der wird jetzt die nächste halbe Stunde abchecken,
was für Typen hier unterwegs sind, damit er sich nicht zu billig verkauft.

Aber darauf werde ich nicht mehr warten. Mir ist es zu spät geworden.
Draußen wird es schon hell.


Andererseits: Manchmal tut sich ja schnell noch was ... .
Nein, ich haue ab ! Für heute habe ich von diesen Schönlingen die Nase voll."

5. O-Ton Hentzelt:
Statt zu sehen, dass die Situation als solche eine gewisse Selbstdarstellung provoziert, wird gesagt, es sei das narzisstische Gehabe `der Schwulen´, so dass der Blick von der konkreten Situation abgelenkt wird.

Das Problem dabei ist, dass solche Erfahrungsmuster die Tendenz haben, sich selber zu bestätigen: Wenn ich ein bestimmtes Wahrnehmungsmuster habe, mit dem ich an andere Menschen herantrete, dann habe ich die Tendenz, dies bestätigen zu lassen. Ich halte das insofern für problematisch, weil immer da, wo wir von einem Wesen der Schwulen ausgehen -also von einer schwulen Identität, die im Kern der Persönlichkeit verankert ist- von etwas Unwandelbarem ausgehen, statt zu gucken, was das Situative ist, was das Konkrete ist, was dann eventuell auch angegangen und verändert werden kann.


Oft sind es gar nicht homosexuelle Männer selbst, die die Unterschiede zur heterosexuellen Mehrheit betonen und damit verfestigen helfen.
Allein die Existenz zum Beispiel des deutschen Schwulenverbandes aber auch die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten politischer Parteien signalisieren das Vorhandensein weiterer Besonderheiten zusätzlich zur anderen sexuellen Orientierung.

Schon  seit einigen Jahren hat die Wirtschaft  homosexuelle Männer
als potentiell kaufkräftige Konsumenten entdeckt, derem `wir´-Gefühl es zu schmeicheln gilt. `Die Schwulen´ sind politisch noch immer nicht mitten in der Gesellschaft angekommen, aber die Wirtschaft ist bereits dabei, sie tatkräftig zu umwerben.

Der an schwulen Männern interessierte Teil der Wirtschaft macht sich gängige Stereotype zunutze, wie `der Homosexuelle ist modeinteressiert, markenbewusst und -am wichtigsten- meist gut bei Kasse, da er ja kein Geld in das Großziehen von Kindern investieren muss bzw. darf.´ Psychotherapeut Hentzelt:

6. O-Ton Hentzelt:        
Wirtschaftliche Belange lassen sich in zwei Richtungen ausmachen:  
Es gibt einmal die speziell kommerzialisierte schwule Szene - Als da wären: Event-Manager, spezielle Lokalitäten, Zeitschriften, Verlage, die einfach nur davon leben, dass sie einen schwulen Markt bedienen;
Und es gibt Tendenzen größerer Firmen, im schwulen Marktsegment besonders beheimatet sein zu wollen. Beispiele hierfür wären Jacobs-Kaffee mit einer speziellen Anzeigenkampagne in schwulen Medien, wie auch die Firma Iglu mit ihren Werbespotts mit dem schwulen Pärchen.
Dahinter zeigt sich sehr deutlich, dass die Hoffnung besteht, so etwas wie schwule Identität nutzen zu können für Werbezwecke. Insofern kann man sicher davon ausgehen, dass die Werbestrategen, die dahinter stecken, auch ein Interesse daran haben, dass es so etwas wie `schwule Identität´ gibt.


Erst einmal kann es einen erschrecken, dass wirtschaftliche Verwertungs-zusammenhänge auch in etwas hineinspielen, was wir als das Allerintimste überhaupt -nämlich unsere Sexualität- ansehen; Da herrschen manchmal Wunschvorstellungen, dass das doch wenigstens reinzuhalten wäre. Ähnliches zeigt sich sehr deutlich an der Verkitschung des Beziehungsideals - Da ist ganz klar zu erkennen, inwiefeern Verwertungsmechanismen dort hineinspielen. Auf der anderen Seite steht die Hoffnung, wir hätten hier wenigstens einen Bereich, den wir aus der bösen kalten Welt wirtschaftlicher Interessen heraushalten könnten.

Wenn in den vergangenen Jahrzehnten einzelne schwule Stimmen  bzgl. der eigenen Unterdrückung laut wurden, so richteten sie sich häufig gegen das herrschende System. Im künstlerisch/kreativen Bereich übte man sich in Subversion - `Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt´ nannte Rosa Von Praunheim 1971 einen seiner wichtigsten Filme;

Im politischen Bereich war man traditionell links angesiedelt. So wirkten schwule und lesbische Aktivisten in den 70er Jahren maßgeblich bei der Gründung der GRÜNEN mit, wo sie seither Gleichstellungspolitik vorantreiben. Dies hatte durchaus Signalwirkung auf die anderen politischen Parteien, die sich dem homosexuellen Wählerpotential ebenfalls nicht verschließen wollten.

Die meisten linken Kräfte, so sie sich denn selber noch so einordnen, versuchen sich mangels Alternative inzwischen mit der kapitalistischen Marktwirtschaft zu arrangieren. So hat sich für die Umweltschützer z.B. die ökologische Landwirtschaft etabliert, die Alt-68er haben es sich im Bundeskanzleramt und auf den Regierungsbänken gemütlich gemacht. Und ehemals bewegte schwule Männer ? Haben sie sich inzwischen mit der Erkenntnis angefreundet, dass Kapitalismus und Homosexualität sehr gut miteinander vereinbar sind ?

7. O-Ton Hentzelt:
Wenn es nach mir ginge, würde ich mich auch sehr darüber freuen, wenn in schwuler Identität noch etwas Subversives liegen würde; Wenn Gesellschaftskritik sich an so etwas wie `schwuler Identität´ festmachen ließe - Aber das sehe ich überhaupt nicht mehr. So ist es einfach: Der Kapitalismus ist in der Lage, alles, was als Subversion gedacht war, selbst wieder zu verwerten. Das ist die Situation, mit der wir umgehen müssen und in der es gerade darum geht, sich nicht davon einschüchtern zu lassen, sondern Freiräume in diesem System zu entdecken.
Aber zu meinen, wir könnten dieses System innerhalb der nächsten Zeit überwinden, ist nun wirklich eine Illusion.


Nur wenige politische Schwule bedauern den Abschied vom revolutionären und subversiven Potential, das Homosexualität in den 70er und frühen 80er Jahren häufig von linksradikaler Seite attestiert wurde.
Damals sahen manche Marxisten schwule Männer durch die unterstellte bürgerliche Unterdrückung in einer entfremdeten Lebenssituation gefangen, die es zu bekämpfen galt.
Heute scheint diese Sicht der Dinge nicht mehr zeitgemäß:

8. O-Ton Wowereit:
Ich bin schwul und das ist auch gut so.

Inzwischen regieren Bürgermeister, deren first `Lady´ ein Mann ist, die beiden größten Städte der Bundesrepublik und tun offen schwule Männer Dienst in der Bundeswehr. Subversion als Mittel, gegen gesellschaftliche Verhältnisse anzukämpfen, hat scheinbar ausgedient.

Bleiben die Tunten - Männer, die Klischees über Schwule durch Übersteigerungen karikieren.  Die Fähigkeit, sich Freiräume zu erobern, in denen so etwas wie Narrenfreiheit in puncto Verhalten herrscht, wurde seit jeher von tuntigen Schwulen kultiviert. Wenn es darum geht, gängige Normen und Werte durch Persiflierung zu hinterfragen, dann sind es vor allem sie, die immer wieder Anstoß dazu geben, gängige Frauen- und Männerbilder zu hinterfragen.
Dies liegt einigen von ihnen im Blut, ohne dass sie sich darüber Gedanken machen; Andere, wie die Berliner Szene-Größe Gloria Viagra, hinter der ein linker schwuler Mann steht, genießen bewusst ihre Angriffe auf die klassischen Geschlechterrollen und stellen so immer wieder das bipolare Mann-Frau-Schema in Frage:

9. O-Ton Viagra:
Die große Stärke der Tunten war und ist der Hang zur Selbstironie. Die können anders mit dem, was sie als Person sind, und dem, was sie darstellen, umgehen als `normale´ -sag ich jetzt einmal- Männer und Frauen.

10. O-Ton Viagra:
Bei Transen und Tunten gibt es eine Spannbreite, die so vielfältig ist, wie es einzelne Tunten und Transen gibt: Die reicht vom Berliner Trash-Tuntentum, wo ich eigentlich herkomme und die noch einmal eine Ironie der Damendarstellung selber bilden und damit auch eine politische Haltung einnehmen bis zu den typischen Cabaret-, Glamour- oder Showtransen ... - Was dann aber irgendwann nur noch bedeutet
`Federn und Pailletten´, die Leute unterhalten und mit einer bestimmten Grundhaltung nichts mehr zu tun hat oder irgendetwas in Frage stellt. Das ist eben einfach überhaupt nicht mehr politisch.
Vielleicht ist die Form der Showtranse einfach veraltet, überholt.


Zu Zeiten, in denen die Fundamente sozialer Sicherung in der Bundesrepublik erschüttert werden, sehnen sich viele Menschen nach gefestigten Normen und Werten. Daher wollen die wenigsten grundlegende Rollenverteilungen persifliert oder gar nachhaltig in Frage gestellt sehen. Es verwundert kaum, dass heterosexuelle als auch schwule Männer bei härterem wirtschaftlichem Wettbewerb das Zulassen vermeintlich femininer Eigenschaften lieber vermeiden.
Nicht zuletzt deshalb wird Tunten und Showtransen von politisch konservativen Schwulen häufig der vermeintlich durch sie verursachte Imageschaden vorgeworfen, der ihrer Ansicht nach mit dem Unterstreichen landläufiger Klischees über homosexuelle Männer entsteht; Gleichzeitig wird von linker Seite kritisiert, dass Glamourtunten genau genommen überzeichnete Idealbilder heterosexueller Machomänner verkörpern und somit ein längst überholtes Frauenbild persiflieren.
Viel Feind, viel Ehr´ für die Tunten ?

Als Drag Queen, die auf vielen Veranstaltungen vor allem ein schwules Publikum unterhält, versucht Gloria Viagra häufig, gegen eingefahrene Vorurteile in bezug auf Tunten anzugehen. Hierbei wird sie jedoch immer wieder damit konfrontiert, dass das Publikum von ihr erwartet, Klischees zu bedienen.
Es mag seltsam anmuten, dass gerade homosexuelle Männer Stereotype bekräftigt sehen wollen. Erklären lässt sich dies allenfalls damit, dass die Bestätigung von Klischees das eigene Selbstbild zu stützen vermag, selbst wenn diese Vorurteile mehr schaden als nutzen.
Gloria Viagra, die auch als Djane in Diskotheken arbeitet, kommt nach eigenem Bekunden mit dieser Erwartungshaltung großer Teile ihres Publikums nicht gut zurecht. Sie sieht sich in einer gewissen Verantwortung, ungute Einstellungen durch ihre Arbeit nicht noch zu verstärken:

11. O-Ton Viagra:
Ich habe einige Ideen für eine eigene Show, die natürlich eine politische wäre und Spaß und Politik miteinander verbindet. Aber ich merke, dass man da ganz schnell an die Grenzen stößt, was die Leute hören wollen oder inwieweit es genehm ist. Bis zu einer gewissen Stelle ist es ja gewünscht aber es stößt dann auch sehr schnell an die Grenzen, wo es den Leuten zu viel wird. Die Leute müssten sich dann selber hinterfragen, auch an ihre Grenzen stoßen und wollen daher eher mit Schenkelklopfern und sonst was abgespeist werden, weil sich so etwas einfach besser verkaufen lässt.
Ich merke, dass mir damit Grenzen gesetzt werden - z.B. letztes Jahr beim schwullesbischen Straßenfest sollte ich die Moderation dann nicht mehr machen, weil ich eben zu politisch bin ... . Wo man dann tatsächlich ausgeschlossen wird.
Insofern muss ich eben meinen Unterhalt mit Plattenauflegen verdienen statt mit dem, was ich eigentlich will.


Schwule Männer sind eine durch ihre sexuelle Orientierung definierte Minderheit. Dadurch, dass Minderheiten sich oft an Mehrheiten reiben, konnte es passieren, dass das Verhalten der heterosexuellen Majorität sich im Laufe der Jahre von schwulen Besonderheiten beeinflussen ließ.

Die traditionell immer schon freizügigere Art homosexueller Männer findet außerhalb der schwulen Subkultur zunehmend Nachahmer - Begriffe wie `cruisen´ oder `darkroom´, die noch bis vor einem Jahrzehnt fast nur in reinen Männerkreisen gebräuchlich waren, beflügeln zunehmend die Phantasien auch gemischtgeschlechtlicher Paare.
Filmemacher Jochen Hick über schwule Männer als Vorreiter:

12. O-Ton Hick:
Die  Schwulen haben sehr zum sexuellen Leben und zur sexuellen Aufklärung beigetragen, auch weil sie nicht so sehr unter dem Ehe-Verdikt leiden. So dass sie hier durchaus auch eine Vorreiterrolle haben können - Könnten vielleicht eher, denn man sieht ja, was die Deutschen daraus gemacht haben: Sie wollten ja unbedingt die `Homo-Ehe´, per-se `Ehe´, einführen, welches die Franzosen ja nicht so gemacht haben - Dort gibt es z.B. das Partnerschaftsgesetz. Es wird also nicht alles wahrgenommen, was wahrgenommen werden könnte.
Dann gibt es noch die Dinge, wie sich Männer als sexuelle und als körperliche Wesen sehen - Das ist schon sehr durch Schwule bestimmt gewesen. Und wie man mit gewissen Unterdrückungsmechanismen in der Gesellschaft umgeht.

Ich vertrete die Meinung, dass Schwule immer eine Minderheit bleiben und auch nie so `normal´ sein können, wie die Mehrheit, weil für die Mehrheit `Normalität´ eben Mehrheit bedeutet.
      
Dessen ungeachtet gleicht sich die heterosexuelle Mehrheit in ihrem Verhalten der homosexuellen Minorität immer weiter an: Soziologen sprechen neuerdings gar von einer `Homosexualisierung´ allgemeiner Lebensstile.
Damit ist die Übernahme von Verhaltensweisen gemeint, die früher hauptsächlich schwulen Männern, weniger lesbischen Frauen und vielleicht noch einigen heterosexuellen Dandys zugeschrieben wurden:
Man lebt mehr oder weniger freiwillig alleine, hat keine Kinder, unterhält nur noch wenige Bindungen an die Familie und verwirklicht sich selbst.

Wo es vor einigen Jahrzehnten für die Gesellschaft noch  nicht von
Belang war, ob 3 % der Bevölkerung -Schwule und Lesben- keine oder nur selten Kinder hatten, so ist für die Bundesrepublik mittlerweile die de- facto-Übernahme des homosexuellen Lebensstils durch immer breitere Bevölkerungskreise zu einem großen Problem geworden. Die demographische Entwicklung verdeutlicht, dass der unausgesprochene alte Pakt nicht mehr gilt, der Schwule und Lesben aus der Mitte der Gesellschaft verbannte, in der dann aber -heterosexuell organisiert- auch für ausreichend Nachwuchs gesorgt wurde.

Noch wird Schwulen und Lesben ihre überwiegende Kinderlosigkeit politisch nicht zum Vorwurf gemacht. Dies wäre, wo sie in Adoptionsrecht und künstlicher Befruchtung nach wie vor diskriminiert werden, auch nicht redlich. Zudem ist nicht ausgemacht, ob eine vergreiste Gesellschaft zwangsläufig auch eine unglückliche Gesellschaft sein muss.
Dennoch ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die political correctness in der Kinderfrage aufgegeben und homosexuellen Männern wie Frauen ihr einziges biologisches Manko zum Vorwurf gemacht werden wird.
Jochen Hick plädiert auch in anderen Fragen gegen überzogene Rücksichtnahme und Tabuisierungen in öffentlichen Auseinandersetzungen:

13. O-Ton Hick:
Die political correctness  ist  fast das Schlimmste, das `den Schwulen´ passieren kann. Sie ist relativ weit fortgeschritten und geht so weit, dass Redakteure in Fernsehanstalten schwule Regisseure fragen `Aber könnte das nicht irgendwie als Angriff oder Diskriminierung von Schwulen gesehen werden ?´ und sich darüber unheimlich viele Gedanken machen. Das ist aber insofern wieder verlogen, weil dies dann oft eher noch als Ablehnungsgrund von irgendwelchen Projekten hergenommen wird.

Je stärker die political correctness, desto stärker ist auch die Schattenseite davon: Leute, die dann in privatem Rahmen sehr aggressiv auf Schwule sind. Ich habe ja den Film `Ich kenn´ keinen - Allein unter Heteros´ gemacht, wo man genau sehen kann, dass abseits von den großen Medienbetrieben und abseits der Großstädte, wo man gewisse Dinge überhaupt nicht sagen kann -denn dann wär´s sofort in den Medien oder die Leute würden mit dem Finger auf einen zeigen- sehr wohl noch so viele unkorrekte Aussagen sind, dass man eigentlich erwarten könnte, dass es diese auch in den Großstädten gibt, nur eben die Leute dort sich´s gerade noch nicht trauen. Und ich glaube, sobald da mal etwas passiert, sind die Leute ganz glücklich, wenn sie ihre Wut wieder an den Schwulen auslassen können.

In den elektronischen Massenmedien hat sich die Darstellung von Homosexualität und homosexuellen Männern in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Sowohl vor als auch hinter der Kamera bzw. dem Mikrofon fanden Veränderungen statt: Noch vor 25 Jahren wurden Schwule überwiegend als Bürgerschrecks in Szene gesetzt; wurden Zuschauer oder Zuhörer in diesem Zusammenhang mit lauten Filmemachern oder schrillen Künstlern konfrontiert.
Heute treffen die Medienkonsumenten auf zahlreiche scheinbar weichgespülte schwule Bürgerlieblinge - Schlagersänger, Komiker oder Showtransen.
Medienaktrice Gloria Viagra:

14. O-Ton Viagra:
Inzwischen hat ja selbst die Werbeindustrie die Transen als Sympathieträger entdeckt ... . Das ist alles kein Unding mehr heutzutage. Vielleicht ist es ein Zeichen von Normalität, aber ob es ein Fortschritt ist, ist halt wirklich die Frage.
Auf der anderen Seite gibt´s Leute, wie diese ganzen Comedians im Privatfernsehen - Die verstoßen absichtlich gegen die political correctness und machen derbe Scherze auf Kosten von Minderheiten. Das ist traurig, aber anscheinend wollen die Leute so etwas sehen. Es ist halt salonfähig oder ein Quotenbringer.
Das Problem bei der political correctness ist, dass sie einerseits überstrapaziert wird, also mit ihr Widersprüche sozusagen zugespachtelt werden - Auf der anderen Seite sind Minderheiten, wie Schwule und Lesben, darauf angewiesen; Weil es auch bestimmte Tabus gibt, die es nicht zu brechen gilt.

Das Fernsehen behauptet sich nach wie vor als das wichtigste
elektronische Massenmedium in Deutschland. Daher ist es auch heute nicht unerheblich, wie Homosexualität in TV-Sendungen dargestellt wird,
sei es innerhalb erfundener Handlungen oder in Form von Dokumentationen.
Jochen Hick, der einige seiner Kinofilme durch das Fernsehen koproduzieren ließ, über Schwule im Fernsehen:

15. O-Ton Hick:
Schwule kommen mittlerweile in sehr vielen Sendungen vor, nach wie vor aber mehr am Rande. Lustigerweise sind sie ja doch nie Hauptfiguren - Oder kann sich jemand erinnern, um 19 Uhr 30 im ZDF oder um 20 Uhr 15 in der ARD ein Fernsehspiel mit den Hauptfiguren, einem schwulen Paar gesehen zu haben ?

Das kommt daher, dass man sieht: Es gibt einen gewissen Markt an schwulen Zuschauern und die haben natürlich nicht immer Lust, Filme zu sehen, die mit dem kleinsten Budget gemacht werden -Denn, wenn einer mit einem schwulen Script ankommt, dann gibt es nun mal kein Geld in diesem Land- und die Lust haben, Stars und teures Kino mit schwulen Figuren zu sehen; Die dann aber oft überhaupt nicht mehr den Unterschied wahrnehmen zwischen originären Sachen und anderen, weil ja ohnehin heutzutage der Unterschied nicht mehr gesehen wird: Weil a) die Formen teilweise ein bisschen verschwimmen und b) eigentlich gar nicht so viel Wert auf Authentizität gelegt wird.

Jochen Hick hat durch seine besonders in den USA sehr erfolgreichen Filme `Via Appia´ und `No one sleeps´ Erfahrungen mit der kompromisslosen Darstellung männlicher Homosexualität in Mainstream-Medien gesammelt.
Hierbei musste er damit umzugehen lernen, dass ein Publikum, hetero- aber auch homosexuell, welches bei Filmen ganz überwiegend an das `Frau trifft Mann´-Schema gewöhnt ist, auf `Mann kämpft um Mann´-Geschichten zum Teil verstört reagiert. Sind Filme dieser Art als Provokation einzuordnen, als Zumutung für die Zuschauer ?

16. O-Ton Hick:
Ich denke nicht, dass  ich sehr aggressiv in meinen Sachen bin. Es ist vielmehr so, dass sehr viele Heterosexuelle manche Dinge gleich als super-aggressiv ansehen. Bei `No one sleeps´ ist ja nicht wirklich eine Sexszene und man sieht eigentlich auch nicht eine real passierende Gewaltszene in dem ganzen Film - Aber trotzdem mag es natürlich für ein heterosexuelles Publikum eine ganze Lawine an Phantasien lostreten. Ein Publikum, das gleichzeitig permanent auf VOX oder auf RTL2 viel brutalere oder sexuell explizitere Filme sieht. Extrem explizitere: Also jede kleinste hetero-sexuelle Pornoreklame, die auf VOX läuft -`Ruf mich an´ oder sonst was- ist sehr viel brutaler als das, was ich mache.

Aber das ist ja gerade das Phänomen: Egal, wie man´s  macht - Es wird die Leute immer schockieren. Es wird auch insofern sehr viele Schwule schockieren, weil die ja immer denken, sie werden mit so was -weil es ja so wenige Bilder über Schwule gibt- gleichgesetzt, identifiziert oder sie müssten das jetzt sein; Oder sie müssten sich dafür verteidigen; Es würde etwas von ihnen preisgegeben. Das sind ganz schwierige Mechanismen, mit denen man immer zu kämpfen hat. Es ist alles sehr relativ und man sollte die Kirche im Dorf lassen, was hart ist und was nicht so hart ist.

Naturgemäß hart ist die Auseinandersetzung mit AIDS im Rahmen von Kino- und TV-Filmen.

Auch zu Beginn des neuen Jahrtausends hat die Krankheit kaum etwas von ihrem Schrecken eingebüßt. Die Lebensqualität vieler Infizierter und Kranker konnte durch Erfolge in der medizinischen Forschung zwar um einiges verbessert werden - AIDS ist jedoch nach wie vor eine tödlich verlaufende Krankheit. Man glaubt es kaum, liest man in schwulen Stadtmagazinen die ganzseitigen Hochglanzanzeigen der Pharmafirmen; Man soll es vermutlich auch nicht glauben, weil eben diese Anzeigen suggerieren, eine HIV-Infektion sei eigentlich gar nicht so schlimm, könne das Leben unter Umständen sogar bereichern.

Angesichts solcher Verharmlosungen scheint es nicht verwunderlich, wenn in den selben Zeitschriften, in denen die Pharma-Riesen für Ihre Pillen werben, schwule Pornofilme lanciert werden, in denen die Darsteller auf Safer sex verzichten, sogenanntes `barebacking´ betreiben. Viele Hersteller derartiger Produkte argumentieren damit, dass der Anblick von Kondomen die Zuschauer stören würde. Der Psychologe Frieder Hentzelt vermutet hingegen, dass durch das Ignorieren der Infektionsgefahr contra-phobische Bedürfnisse der Konsumenten befriedigt werden sollen.

Dieses Beispiel offenbart eine besonders zynische Seite des neoliberalen Kapitalismus - Die Moral ist im Hinblick auf die Gesundheit vieler Menschen in der modernen Gesellschaft auch bei homosexuellen Männern längst individualisiert worden: Jeder trägt für sich selber die Verantwortung - Unwissenheit, Verdrängung oder Unreife gelten nicht als Ausrede.

In den Massenmedien wird AIDS inzwischen immer seltener thematisiert. Filmemacher Jochen Hick setzt die Krankheit mittlerweile ebenfalls eher als Spannungselement in seinen Geschichten ein. Dennoch sieht er die Filmthematik `HIV´ auf absehbare Zeit nicht als erledigt an:

17. O-Ton Hick:
Das Thema AIDS  ist  bestimmt   nicht  vorbei. Neuerdings gibt es bei  AIDS  ganz andere Fragen, so z.B.: `Was machen die ganzen Leute, die auf einmal mehr Lebenszeit geschenkt bekommen haben ? Die ursprünglich dachten, sie würden gar nicht mehr so lange leben. Was machen die jetzt eigentlich ? Fangen die wieder an zu arbeiten ? Wie kommen sie zurecht ? Wenn sie Frührentner sind: Was ist das eigentlich für ein Leben ? Wie kommen sie mit ihren Depressionen und dem Nichtstun zurecht ?´

Zusätzlich gibt es dann natürlich noch die Trennung zwischen Positiven und Negativen, die jetzt ganz klar ist: Die einen wollen genau das bleiben und die anderen sind schon das - Das sind ja durchaus soziale Fraggen.

Es geht nicht per se um das Thema AIDS, denn das ist  immer nur ein Katalysator; Letztendlich geht es um soziale Strukturen: Wie eine Minderheit sich selber formiert und was es dabei für Gesetze gibt. Lustigerweise ist manchmal der Grund, dass gerade von einem heterosexuell bestimmten Fernsehen oder Redakteursgewerbe oft die AIDS-Themen am liebsten genommen werden, damit klar klassifizierbar ist: `Wenn wir etwas über Schwule bringen, dann sind sie gleich krank oder vom Tode bedroht.´

Während nach 1968 mehrere Generationen homosexueller Männer
herangewachsen und sozialisiert worden sind, fand eine Normalisierung des schwulen Lebens statt. Das bedeutet eine Angleichung an die in der Gesellschaft üblichen Lebensverhältnisse: Auch hier leben die meisten Erwachsenen überwiegend innerhalb ihrer eigenen Altersgruppen. Selbstverständlich gibt es noch die Eltern, die Großeltern, die Tanten und natürlich bildet die Familie nach wie vor eine entscheidende Instanz - Aber viele Bereiche des geselligen Lebens finden in erster Linie unter Gleichaltrigen statt.

Daher  sollte  das  Älterwerden  für  den  schwulen Mann  eigentlich kein größeres Problem darstellen als für den heterosexuellen -
Letzterer gilt um die 50 klassischerweise als `Mann in den besten Jahren´. Dass Frauen dasselbe Gütesiegel im entsprechenden Alter nicht auch für sich beanspruchen können, steht -und dies hat ebenso Tradition- auf einem anderen Blatt geschrieben.
Der Soziologe Michael Bochow über den Herbst des schwulen Lebens:

18. O-Ton Bochow:
Es gibt einen spezifischen Jugendkult unter Schwulen. Dieser ist zum Teil auch angesiedelt im gesellschaftlichen Mainstream. In den letzten 20 Jahren noch verstärkt durch die neuen Medien, das Immer-Weiter-Wuchern von Werbung und die öffentliche Darbietung von Idealtypen; Von Models im Sinne von `so sollen alle Leute aussehen´. Innerhalb dieser Bereiche mögen Schwule manchmal Trendsetter sein - Die Frage ist jedoch, ob sie es wirklich in dem Ausmaß sind, wie sie es in ihrer Selbststilisierung beanspruchen.
Wie auch immer - Den Jugendfetischismus haben `die Schwulen´ weiss Gott nicht erfunden. Um es überspitzt auszudrücken: Jeder Hetero möchte auch lieber mit Claudia Schiffer als mit Mutter Beimer in´s Bett.

Ich sehe es im schwulen Leben nicht so, dass es dort eine `chinesische Mauer´ zwischen den Generationen gibt. Sicher haben es viele ältere Schwule schwer, in bestimmte Orte zu kommen, zu denen sie gerne hingegangen sind als sie jünger waren. Viele wollen dort aber gar nicht mehr hin, weil sie durch diese Phase hindurch sind. Sie haben, genau wie entsprechende Hetero-Männer, andere Netzwerke aufgebaut, die für sie vor allem emotional viel bedeutsamer sind als das Tanzlokal.

Die Jugendkultur, vor allem die Popmusik, fixiert sich in Deutschland - dem US-amerikanischen Vorbild folgend- auf stark an der Unterschicht orientierte Ausdrucksformen. Gerade Rap-, R&B-  und HipHop-Musik sind unter männlichen Jugendlichen sehr beliebt. In deren Texten und Darstellungen in Videoclipps werden patriarchalische Lebensweisen glorifiziert: Wo in den 70er Jahren Glamrocker und in den 80ern androgyne Discosänger das Musikbusiness bestimmten, wetteifern seit den 90er Jahren Rapper mit Gangster-Image auf den Musikkanälen in ihren Texten und Bildern darum, wer von ihnen der härteste Macho ist oder wer bereits am längsten im Gefängnis saß.

Auch wenn der Einfluss der Massenmedien nicht überschätzt werden sollte, bleibt diese erstaunlich langlebige Mode nicht ohne Folgen für Normen und Werte junger Männer in Deutschland, insbesondere solcher aus Migrantenfamilien.

Die Probleme für homosexuelle Männer werden hierdurch nicht geringer. So sehen sich z.B. schwule Schüler in Großstädten mit türkisch- oder arabischstämmigen Mitschülern konfrontiert, für die westlich gelebte Homosexualität völlig inakzeptabel ist und das eigene Selbstbild als Mann ins Wanken bringt.

Der Soziologe Michael Bochow hat sich mit Homosexualität in der islamischen Welt auseinandergesetzt und stellte dabei heraus, dass das Schlimmste für einen Mann in diesem Kulturkreis ist, sich nicht als Mann zu verhalten. Das bedeutet, dass alles Unmännliche -in erster Linie Frauen- sich den richtigen, den aktiven Männern unterzuordnen hat:

19. O-Ton Bochow:
In diesem Unterordnungsmodell sind `die Schwulen´ nicht vorgesehen  - So etwas gibt es nicht. Insofern ist eine Kategorie wie `homophob´, die man den Türken oder den Arabern auf´s Auge drückt, zum Teil sehr unpassend, weil sie zu wenig erklärt, was dabei für Vorgänge ablaufen.

Ich setze sehr auf den Integrationswillen bzw. auf den Willen zum beruflichen Erfolg; Und dieser läuft bei jungen Türken nur über Integration. Was man sich auch vor Augen halten muss: Die rückwärtsgewandte Haltung, die auf traditioneller Männlichkeit insistiert, findet man eher bei den `drop outs´ - Unter den 40% der jungen Erwachsenen,, die arbeitslos sind; Man wird sie weniger bei beruflich integrierten oder beruflich erfolgreichen jungen Türken finden.

Auf mittlere Sicht besteht die Hoffnung, dass sich auch türkische Familien als dominante Migrantengruppe dem mitteleuropäischen Umgang mit Homosexualität annähern.
Bis dahin sind nach Michael Bochow die deutschstämmigen Schwulen aufgefordert, mit gutem Beispiel voranzugehen und z.B. junge türkische Schwule nachhaltiger zu integrieren. Selbst wenn nach seiner Ansicht die vielbeschworene `gay community´ -die schwule Gemeinschaft- lediglich eine Fiktion ist - Manchmal aber, wie in diesem Fall, eine notwendige Fiktion.

Natürlich gibt es auch unter Migranten junge Schwule. Diese stehen häufig in Konflikt zwischen dem Wunsch an Teilhabe am liberaler gewordenen Umgang mit Homosexualität auf Seiten der deutschen Wohnbevölkerung und des meist sehr repressiven Umgangs mit diesem Thema unter Migranten. Nicht nur, aber eben häufig auch in türkischen Familien.

20. O-Ton Bochow:
Schwule Türken haben im Gegensatz zu ihren jugendlichen Mittürken nicht die Möglichkeit des Rückgriffs auf die Familiensolidarität, weil sie als Schwule Außenseiter sind. Sie müssen noch viel vorsichtiger sein als junge schwule Deutsche, weil es besonders stark geahndet wird, als Türke schwul zu sein.

Türken haben in der schwulen Subkultur den Exotenbonus. Dieser ist jedoch ein sehr fragwürdiger Bonus: Sie fühlen sich von Deutschen oft zum Sexualobjekt herabgestuft und beklagen ein mangelndes Verständnis und mangelnde Solidarität, die bezug nimmt auf ihre besonders schwierige soziale Situation als schwuler Türke, der nicht so ohne weiteres mit seiner Familie brechen kann oder will.

Über sehr lange Zeit hinweg wurden homosexuelle Männer in Deutschland unterdrückt. Ihr Außenseitertum kompensierten sie dabei häufig durch übersteigerte Selbstinszenierung. Schon Dannecker und Reiche betitelten 1974 ein Kapitel ihrer Studie über den `gewöhnlichen Homosexuellen´ mit der Feststellung `Aber teuer muss es sein`.
Unter Journalisten wurde es ebenfalls zur liebgewonnenen Gewohnheit, Schwule als besonders wohlsituiert und gebildet zu verklären.

Doch ganz so rosarot sieht ihre Welt auch heute noch nicht aus -
Homosexuelle Männer behaupten sich zu einem großen Teil in verschiedenen Dienstleistungsbereichen, sind daher allenfalls der Mittelschicht zuzurechnen. Und wie es selbstverständlich erfolgreiche und kreativ tätige Schwule gibt, existiert eben so eine Unterschicht bei Männern, die auf Männer stehen.
Nach dem Soziologen Bochow haben es diese Schwulen innerhalb `der Szene´ nicht einfach:

21. O-Ton Bochow:
Ein Großteil der `gay community´ besteht aus subkulturellen Orten -
Und Bars, schwule Cafés und Kneipen sind nun einmal keine Arbeiterwohlfahrt. Man muss nur einmal darüber nachdenken, was z.B. Getränke in schwulen Kneipen kosten. Es funktionieren dort also Filter, Geld-Filter, die einen Teil der Unterschichtsschwulen einfach aussondern, weil ihnen diese Welt zu teuer ist. Diese Welt ist nicht ihre Welt. Das hat auch etwas mit Verkehrsformen zu tun: Viele schwule Bars sind in ihren Verkehrsformen auch wiederum mittelschichtsdominiert - Wo eine bestimmte Art zu reden angesagt ist; Übrigens auch eine Art zu reisen und darüber zu erzählen. Auch hiermit können viele schwule Unterschichtsangehörige nicht konkurrieren.

Ich glaube, sie sind in mancher Hinsicht weniger gefährdet, den Lügen des Systems zu glauben und sie haben zum Teil ein viel realistischeres Bewusstsein von `unten´ und `oben´. Realistischer als das vieler kleinbürgerlicher Schwuler, die nach wie vor einen großen Aufstiegswillen haben.

Ausgrenzung erfolgt über Geld und -damit eng verbunden- dem äußeren  Erscheinungsbild.

Es wird deutlich, dass auch homosexuelle Männer sich untereinander häufig weniger tolerant verhalten als es von Angehörigen derselben Randgruppe anzunehmen wäre. Gloria Viagra, die in den alternativen Schwulenkreisen der Hauptstadt beheimatet ist, über den Konformitätsdruck unter Männern, die Männern gefallen wollen:

22. O-Ton Viagra:
Ich denke, dass bei den Schwulen genau so Ausgrenzungsmechanismen vorhanden sind, wie bei den Heten. Da läuft ganz viel über Kleidung und Aussehen. Ich weiß auch aus meiner Vergangenheit, dass Leute, die anders aussehen oder anders gekleidet sind -gerade die linken Schwulen-, ganz schnell von den anderen ausgegrenzt wurden. Daher denke ich, dass der homosexuelle Mainstream tatsächlich teilweise noch extremer und uniformer ist als der heterosexuelle.
Mein Wunsch wäre, dass Schwule genau wie alle anderen Randgruppen und Minderheiten von Natur aus solidarisch miteinander umgehen und von sich aus linker eingestellt sind. Aber dem ist einfach nicht so. Nicht so, wie ich es wahrnehme. Leider. Es ist keine Realität und ich kann nur sagen: Die Schwulen sind genau so blöd wie die Heten.

In einem Internet- Diskussionsforum  für Schwule wurde kürzlich die Frage erörtert, ob die Reaktion der Veranstalter einer schwulen Sexparty gegenüber einer Transgender-Frau korrekt war, die an dieser Veranstaltung teilnehmen wollte, jedoch von den Partymachern abgewiesen wurde. Es wurde kolportiert, dass die Veranstalter befürchteten, die Anwesenheit einer biologischen Frau, die sich als Mann fühlt -als schwuler Mann- könne bei den übrigen Teilnehmern der Sexparty zu einer Ernüchterung führen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es mitunter auch Angehörigen von Minderheiten schwer fällt, mit Exoten in den eigenen Reihen auf die sensibilisierte Weise umzugehen, die sie selber von der Mehrheitsgesellschaft einfordern.

Von einem einheitlichen Bild, dass schwule Männer sich in Sachen Einkommen, Bildung oder auch Toleranz von der heterosexuellen Bevölkerung abheben, kann also keine Rede sein. Michael Bochow macht dennoch eine Besonderheit der schwulen Subkultur aus, die sie tatsächlich von anderen Subkulturen wie Fußballfans oder Opernliebhabern im positiven Sinne abhebt.
Auch wenn es mit Sport- und Musikfreunden natürlich Schnittmengen gibt:

23. O-Ton Bochow:
Es gibt jedoch etwas in der schwulen Welt, das einzigartig ist und was ich sehr positiv definieren würde als Unterschied gegenüber der heterosexuellen Welt: Es gibt viele schwule Orte, an denen sich soziale Schichten in einer Weise mischen, wie es in anderen gesellschaftlichen Bereichen ungewöhnlich ist - Das sind die Darkrooms der Lederkneipen oder die schwulen Saunen oder die `Klappen´, wo manche Schwule sich treffen; Es sind alles Orte, an denen der Generaldirektor auf den Hilfsarbeiter treffen kann.

Die Standortbestimmung schwuler Männer in Deutschland ergibt, dass diese Bevölkerungsgruppe dem sozialen Wandel genau so ausgesetzt ist, wie die Mehrheit der Menschen. Allenfalls kann festgehalten werden, dass wenn sich ein Mann heute als `schwul´ bezeichnet, die Leute hierdurch weniger über ihn und sein Leben zu wissen glauben als noch vor 20 oder erst recht vor 50 Jahren und dass diese Einschätzung zutrifft.

Große Teile der Bevölkerung begrüßen die Integrationsbemühungen der Politik in Hinblick auf homosexuelle Männer und Frauen. Diese scheinen von der fortschreitenden Individualisierung in der Gesellschaft zu profitieren.

Schwule Männer bleiben jedoch nach wie vor eine kleine Minderheit der Bevölkerung, denn die erfreuliche und teilweise hart erkämpfte Liberalisierung der Gesellschaft hat ihren prozentuellen Anteil, anders als von manch konservativem Scharfmacher prognostiziert, mitnichten erhöht.
Heutzutage ist es allenfalls ein gutes Stück einfacher geworden, gegenüber anderen zur eigenen Veranlagung zu stehen - Für die meisten bleibt dies schwierig genug.

Sicher werden auch in Zukunft Eltern enttäuscht sein, wenn der Sohn sich outet, werden manche seiner Weggefährten sich nach diesem Bekenntnis von ihm abwenden, werden in ihrer Männlichkeit verunsicherte Heterosexuelle sich Schwulen gegenüber aggressiv verhalten und manches Frauenherz gebrochen -
Sollte es für alle diese Erschwernisse nicht einen Ausgleich geben, der sie zumindest teilweise wieder aufwiegt ?

Das Besondere im Schwulsein ? Das Andersartige, was homosexuellen Männern seit jeher angedichtet worden war. Ist es ihnen im Sog des Normalisierungsstrudels inzwischen nicht längst abhanden gekommen ?

Das avantgardistische Lebensgefühl; Die Verlockungen einer tabuisierten
Sexualität; Die größere mentale Nähe zu Frauen; Das Überwinden einengender Geschlechterrollen; Das Gemeinschaftsgefühl unter Außenseitern ... .
Sicher wünscht sich niemand die Repressionen gegen Schwule aus früheren Zeiten zurück - Aber muss die Gegenreaktion auf die Unterdrückung homosexueller Männer zwangsläufig in ihrer vollständigen Entzauberung bestehen ?

In letzter Konsequenz würde diese Normalisierung zur Folge haben, schwule Männer lediglich als regenbogenfarbene Zielgruppe für die Wirtschaft wahrzunehmen; Als bewährte Wählerklientel für eine bestimmte politische Partei; Und die vielleicht letzte Hoffnung für die Hochzeitsausstatter.
Vermutlich wird es so kommen und so wird er dann aussehen –


Der Preis für die Normalisierung.